Der Vogelmann
Darunter, wo sich normalerweise die Höhlungen und Wölbungen von Auge, Wange und Stirn befanden, war eine zarte, gesprenkelte Blutblase.
»Joni?« Rebecca erhob sich unter Schmerzen ein paar Zentimeter. »Joni? »
Joni rollte den Kopf zur Seite. Einen Moment lang schien sie Rebecca nicht zu erkennen, dann zuckte ihre Zunge.
»Bitte…« Ihre Stimme war hauchfein, weniger als ein Flüstern. Eine Träne erschien in ihrem gesunden Auge. »Bitte, schau nicht zu.«
»Ist schon gut.« Rebecca leckte sich die Lippen, stützte sich
auf den Ellbogen und wand sich unter den Schmerzen in Kopf und Hals. »Ist schon gut.«
Sie versuchte, das Ende des Klebebandes zu erwischen, um ihre Beine zu befreien, aber Bliss war so schlau gewesen, ihr die Handschuhe aus Klebeband anzulegen, denn als sie mit den Zähnen daran zog, spannten sie nur um so fester um ihre Glieder. Keuchend ließ sie die Hände sinken.
Es muß doch etwas geben, na komm, Becky, es gibt eine Möglichkeit, hier rauszukommen; alles Nötige ist da, genau hier. Denk nach.
Sie prägte sich jeden Gegenstand ein, der von Nutzen sein konnte. Neben einem Gasfeuer stand ein versilbertes Gestell mit Feuerzangen, Schürhaken und einer kleinen Schaufel, auf der Resopalplatte in der Küche, an das Fenster mit den geschlossenen Vorhängen gerückt, ein schöner hölzener Messerblock. Und auf dem Tisch? Sie konnte es aus diesem Winkel nicht genau erkennen. Aber Messer, es muß doch Messer geben, wenigstens Gabeln. Ich könnte in zwanzig Sekunden am Tisch und wieder zurück sein. Ich würde ihn hören, wenn er zurückkommt.
Sie holte tief Luft, rollte auf den Bauch und kniff vor Schmerz und Ekel das Gesicht zusammen. Sie warf sich auf den Boden und schob sich vorsichtig mit dem Unterleib voran. Plötzlich sah sie sich: die Augen geschwollen, halb nackt, erschöpft und blutend, wie sie sich über den Boden schleppte, wie ein Hund, den ein Auto angefahren hatte. Sie preßte die Zähne aufeinander, wollte das Bild verscheuchen. Der Tisch war nur einen Meter entfernt, sie hatte ihn fast erreicht. Sie zog die Beine an und…
Irgendwo wurde eine Toilette gespült. Eine Tür geschlossen.
Rebecca erstarrte, ihr Herz raste, ihre Augen waren aufgerissen.
Wendy Dellaney hielt sich für eine loyale Person. Sie war stolz auf den Ruf des St. Dunstan. Stolz dazuzugehören. Und wütend,
einfach wütend , daß Malcolm Bliss weiter Schande auf das Haus geladen hatte. Sie saß an ihrem Schreibtisch, starrte zitternd auf Malcolms Akte, trank Tee und atmete tief. »Ich hätte größte Lust …« Sie nahm den Hörer ab.
»Wendy?« Lola Velinors Kopf tauchte plötzlich auf. »Was machen Sie da?«
»Ich werde ihm in aller Offenheit sagen, was ich von ihm halte. Er ist ein schmutziger, ein schmutziger, ekelhafter kleiner Mann.«
»Nein, nein, nein.« Lola stand auf und nahm ihr sanft den Hörer aus der Hand. »Mischen Sie sich nicht ein. Sie wissen nicht, wie ernst es ist, überlassen Sie die Sache der Polizei.«
Wendy zog sich mit verängstigten, verschreckten Augen in die Ecke zurück und versuchte, sich möglichst unsichtbar zu machen. Zehn Minuten später, als Miss Velinor ging, um den Krankenhausleiter zu treffen und ihn über den Polizeibesuch zu informieren, war der Vorfall vergessen. Wendy wartete bis sich die Tür geschlossen hatte, dann griff sie zum Hörer.
51. KAPITEL
B liss stand über ihr. Er sah sie seltsam an, als wäre sie eine kleine Schnecke, die er über seinen Wohnzimmerboden hatte kriechen sehen.
»Wieder bei Bewußtsein?« sagte er leichthin.
»Sie stirbt.« Rebecca versuchte, die Beine hochzubiegen, um die Hebelwirkung zu nutzen, aber das Band grub sich in ihr Fleisch und unterbrach die Blutzufuhr. Sie gab auf und fiel keuchend zurück. »Wenn Sie nicht aufhören, bringen Sie sie um.«
»Ja.« Bliss zupfte sich nachdenklich an der Innenseite seines Nasenflügels. »Ja.« Er legte die Hände auf die Knie und beugte sich vor, um Joni, deren Kopf schlaff auf der Brust hing, genauer anzusehen. Dann nickte er und richtete sich auf.
»Ja«, sagte er und wischte sich die Hände an den fetten Schenkeln ab. »Du hast recht. Jetzt zu dir. Möchtest du’s noch mal?«
Zitternd vor Schmerz hob sie die Hand hoch. »Rühren Sie mich nicht an.«
»Zu spät. Das habe ich schon.«
»Sie lügen.«
»Nein«, sagte er freundlich. »Nachdem ich dich durch meine ganze Küche geprügelt habe, habe ich gebumst, was übrig war. Du bist bewußtslos gewesen.«
»Das ist nicht
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