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Der Vogelmann

Der Vogelmann

Titel: Der Vogelmann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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Caffery, der die kleine Nase an das beschlagene Fenster gedrückt hielt, war dies der Beweis für das Unfaßbare und Unaussprechliche, den er benötigte. Der Beweis für das, was die Polizei als unmöglich ausgeschlossen hatte. Wir haben jedes Haus in der Gegend abgesucht, Mrs. Caffery; wir werden die Suche auf den Bahndamm ausdehnen; bis über die New-Cross-Brücke hinaus.
    Auf die instinktive Weise, mit der Kinder Dinge wissen, die ihnen niemand gesagt hat, wußte Caffery, daß Penderecki der Polizei ganz genau zeigen könnte, wo Ewan zu finden wäre.
    In den frühen achtziger Jahren gaben die Cafferys den Kampf auf. Sie zogen nach Liverpool zurück und überließen dem einundzwanzigjährigen Jack das Haus, als Gegenleistung dafür, wie er glaubte, ihn nie mehr sehen zu müssen. Jack, den Widerspruchsgeist, den Schwierigen, der nicht gehorchen, nicht schweigen und nicht stillsitzen wollte. Denjenigen, den sie lieber verloren hätten. Diese Worte wurden zwar nie ausgesprochen, aber er las sie in den folgenden Jahren auf dem Gesicht seiner Mutter, wenn er sie dabei ertappte, wie sie auf seinen schwarzen Daumennagel starrte, den er eigensinnigerweise nie herauswachsen ließ, als sei er entschlossen, die Familie an diesen bestimmten Tag zu erinnern. Ewans Verschwinden hatte mehr bewirkt als nur die Verachtung seiner Person in den Augen seiner Mutter. Er wußte, daß sie auch heute noch in den weitläufigen
Vororten von Liverpool wartete, worauf? Daß er Ewan fand? Daß er starb ? Caffery wußte nicht, was sie von ihm verlangte, welche Wiedergutmachung er dafür erbringen sollte, daß er derjenige war, der überlebt hatte. Trotz Veronica und den Frauen, die es vor ihr gegeben hatte, fühlte er sich zuweilen vor lauter Verlustgefühlen und Einsamkeit wie vernichtet. Also verwendete er all seine Energie darauf, bei der Polizei schnell Karriere zu machen. Pendereckis Name war der erste, den er in den Polizeicomputer PC2 einspeicherte. Und dort fand er die Wahrheit.
    John (Ivan) Penderecki, überführter Pädophiler, zwei Haftstrafen in den sechziger Jahren, bevor er sich in jener Straße mitten in London niederließ, in der Jack und Ewan Caffery wohnten.
    Auf den Regalen im Arbeitszimmer (immer noch »Ewans Zimmer«) standen zwölf mit verschiedenen Farbaufklebern bezeichnete Kartons, die mit Papierfetzen, in Folie eingewickelten John-Player-Päckchen, verblichenen Streichholzschachteln, Zeitungsausschnitten, rostigen Nägeln und den Überresten einer halbverkohlten Gasrechnung vollgestopft waren: den banalen Fakten von Pendereckis Leben, die Caffery, der schon als Junge ein besessener Amateurdetektiv war, im Lauf von sechsundzwanzig Jahre gesammelt hatte. Jetzt übertrug er den Inhalt der Kartons auf Computer. Er setzte die Brille auf und stellte das Gerät an.
    »Schon wieder bei deiner Lieblingsarbeit?«
    Er zuckte zusammen. Veronica stand mit verschränkten Armen und zur Seite geneigtem Kopf in der Tür. Sie lächelte. »Ich habe dich beobachtet.«
    »Ich verstehe.« Er nahm die Brille ab. »Du hast dich selbst reingelassen.«
    »Ich wollte dich überraschen.«
    »Hast du die Tests machen lassen?«
    »Nein.«
    »Es ist Montag. Warum nicht?«
    »Ich war den ganzen Tag im Büro.«

    »Wollte dich dein Vater nicht gehen lassen?«
    Sie runzelte die Stirn und massierte ihren Hals. Die primelgelbe Jacke war tief genug ausgeschnitten, um den Fleck an ihrem Brustbein zu enthüllen. Eine Erinnerung an die Strahlentherapie in ihrer Jugend. »Es gibt keinen Grund, sauer zu werden.«
    »Ich bin nicht sauer. Nur besorgt. Warum gehst du nicht in die Notaufnahme. Jetzt.«
    »Beruhig dich. Ich ruf’ morgen Dr. Cavendish an. In Ordnung?«
    Er wandte sich wieder dem Bildschirm zu, biß sich auf die Lippen und versuchte, sich auf seine Arbeit zu konzentrieren, während er sich zum hundertsten Mal wünschte, er hätte Veronica nie einen Hausschlüssel gegeben. Halb seufzend beobachtete sie ihn von der Tür aus, strich sich das Haar hinter die Ohren, ließ die Fingernägel über den Türrahmen gleiten, wobei die unauffällig teuren Ringe und Armbänder klirrten – die beste Art, wie ein Vater die Liebe zu seiner Tochter zeigen konnte. Er wußte, sie wünschte sich, er sähe sie an. Er gab vor, nichts zu bemerken.
    »Jack«, sagte sie schließlich, trat auf ihn zu, hob eine Strähne seines dunklen Haares und strich mit dem Daumen über die entblößte Kopfhaut. »Wir sollten die Party besprechen. Es sind nur noch ein paar Tage, bis es

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