Der Vogelmann
einem Kurs von zehn Leuten, die verstreut zwischen den grünverhüllten, auf Stahltischen liegenden Leichen standen, befand sich der neunzehnjährige Harteveld; er hatte den süßlichen Geruch von Formaldehyd in der Nase, und er wußte, daß etwas vor sich ging, was sein Leben verändern würde.
Er sollte mit einer jungen Studentin zusammenarbeiten, und ihnen wurde der Leichnam einer Frau in mittleren Jahren zugeteilt. Während des kommenden Semesters würde sie über Nacht in einem Stahlbehälter aufbewahrt und tagsüber, mit dem grünen Baumwolltuch bedeckt, herausgeschoben, um von seinen zitternden, behandschuhten Händen seziert und mit Bedacht wieder zusammengesetzt zu werden.
Sie hatte scharfe Gesichtszüge, zwei kleine gelbe Beutel als Brüste, dünnes Schamhaar und rasiermesserscharfe Hüftknochen, die unter der papierdünnen Haut hervorstanden. Ihr dunkelblondes Haar war über den Kopf zurückgestrichen.
»Ist Doris bereit für ihren Auftritt?« rief die Studentin jedesmal fröhlich den technischen Assistenten zu, wenn sie das Labor betrat und ihre Handschuhe anzog.
»Sie hat heute morgen verschlafen, sehen Sie sie nur an, ich kann keinen Ton aus ihr rauskriegen.« Sie hatten sie herausgeschoben. »Hallo, Doris, wach auf. Du bist dran.«
Und sie wurde Harteveld übergeben, der zitternd und wortlos dastand, sich den Scherzen nicht anschloß und bei dem Gedanken an die starre Reglosigkeit, die ihn unter dem grünen
Tuch erwartete, ins Schwitzen geriet. Manchmal überkam ihn angesichts ihres hingestreckten Leibs ein so starkes Zittern, daß ihm das Skalpell aus den Fingern glitt.
»Du verträgst das nicht«, murmelte seine Kommilitonin und stieß ihm während der gastrointestinalen Untersuchung in die Rippen. »Verstehst du? Du verträgst …, ach, vergiß es.«
Er sparte das Geld, das ihm überwiesen worden war, und kaufte eine Wohnung in Lewisham, eine Wohnung im Erdgeschoß mit einem viereckigen Garten und einer Backsteinmauer darum. Nach dem Unterricht lag er bei geschlossenen Vorhängen im Schlafzimmer und phantasierte so ausgiebig über die Leiche, daß er den Eindruck hatte, sich das Hirn wundgescheuert zu haben. In seiner Vorstellung nahm sie die Ausmaße einer Göttin an: ihr wächsernes, regloses weißes Gesicht, das gelassen und kühl wirkte, eine marmorne Muse, an deren Lippen sich blaue Venen zeigten und deren blondes Haar sich über das Kissen ergoß. Und die in unendlicher Ruhe wartete. Es war die Reglosigkeit und Blässe, die ihn anzog: das genaue Gegenteil der dicken, fahrigen Lucilla.
Von Panik ergriffen, unternahm er hilflose Versuche einer selbstverordneten Gegentherapie. Er schrieb an Forscher in den Staaten und bat um Lieferung von Depo-Provera, eines Mittels zur Unterdrückung des Sexualtriebs. Als sie sich weigerten, versuchte er, sich vor dem Anatomiekurs Heroin zu spritzen. Aber es machte ihn zu schläfrig, um auf die Beine zu kommen. Schlimmer noch, es befreite ihn nicht von seinen Phantasien.
Nur sechs Wochen später, fast am Ende des ersten Semesters, kurz vor Weihnachten, trat das Unheil wirklich ein.
Die Laborangestellten hatten ihre Mittagspause im Pub überzogen und die Leichen nicht in die Kühlfächer im Vorraum zurückgebracht. Harteveld, dem schwindelte und der am ganzen Körper zitterte angesichts der Möglichkeit, die sich ihm eröffnete, blieb zurück, nachdem der letzte Anatomiekurs des Semesters vorbei war. Er duckte sich in die Ecke, in Augenhöhe
mit den glänzenden pneumatischen Ventilen, die zum Heben und Senken der Seziertische dienten.
Es war zwei Uhr nachmittags, und das harte Nordlicht am Himmel begann zu verblassen. Im Bauch des Gebäudes quietschte und rumpelte das alte Heizsystem, aber im Labor war die Luft kalt und abgestanden. Harteveld schlang die Arme um die Knie und wiegte sich leicht. Die Leichen lagen reglos in dem schwachen winterlichen Licht, ihre Haut war in sauberen Schichten von den Armen gelöst, und Klammern und Wundhaken sprossen wie kleine Stacheln aus dem eisigen, grauen Bauchfleisch. Sie befand sich in der Mitte des Raums. Er konnte ihr fahl herabfallendes Haar sehen.
Und dann ging die große Tür am anderen Ende des Laboratoriums auf.
Der Sicherheitsdienst.
Hartevelds Herz blieb stehen. Er durfte hier nicht gefunden werden. Er sollte aufstehen und so tun, als würde er ganz beiläufig etwas zusammenräumen. Jetzt schnell. Aber seine Beine zitterten und gehorchten ihm nicht. Kalter Schweiß brach auf seiner Kopfhaut aus. Er
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