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Der Vogelmann

Der Vogelmann

Titel: Der Vogelmann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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hielt die Hand nahe ans Gesicht. Die Haut war blaß, leicht fleckig, wie die eines Fischers. Aber es gab keine Spuren von Linien, kein Netzwerk tief im Innern des kühlen Fleisches. »Ich dachte, man könnte den Farbstoff hinterher sehen.«
    »Eigentlich nicht. Er verblaßt ziemlich schnell.« Sie strich das Haar hinter die Ohren und sah ihn an. Wimperntusche war halbkreisförmig unter ihren Augen verschmiert. »Jack?«
    »Hm?«
    »Vielleicht sollte ich die Sache allein durchstehen. Ich möchte Dr. Cavendish zeigen, daß mir niemand die Hand zu halten braucht.«
    »Bist du sicher?«
    »Ja, wirklich.«
    »Na schön, in Ordnung.« Er zog den Saum ihres Rocks ein wenig herunter und betrachtete die geschwungene Linie ihres Knies. Er hatte Veronica noch nie zuvor weinen sehen. Merkwürdigerweise erregte ihn das. »Darfst du dann etwas trinken?« Er ließ die Hand über die Innenseite ihres Schenkels hinabgleiten. »Im Kühlschrank ist etwas Gordon’s Gin, wenn du willst.«

19. KAPITEL
    1 984 wurde Lucilla Harteveld, Alter 55, Gewicht 70 kg, mit Brustschmerzen ins King Edward VII. Hospital in der Cavendish Street eingeliefert. In der kardiologischen Abteilung zeigte das EKG, daß sie einen leichten Herzinfarkt erlitten hatte. Sie wurde mit Anestreplase und Disopyramid vollgepumpt. Henrick Harteveld setzte sich sofort mit seinem Sohn in Verbindung.
    Nach einer vorsichtigen Wiedervereinigung von Mutter und Sohn – Lucilla roch in ihrem Krankenhausbett, als hätte sie unter ihren Decken etwas Geheimnisvolles angestellt und genösse das Unbehagen, das sie ihren Besuchern bereitete – spazierten Toby und Hendrick mit ernsten Mienen durch Mayfair zum Abendessen in den Oxford and Cambridge Club. Zum ersten Mal seit Jahren allein gelassen, ohne Lucillas Aufsicht, redeten die beiden Männer bis Mitternacht. Henrick, der erwartete, seine Frau zu verlieren, saß aufrecht auf seinem Stuhl und bestellte Perrier-Jouët. Toby gestand, daß er das Medizinstudium aufgegeben hatte und seine Tage damit verbrachte, tatenlos in seiner Wohnung im Südosten von London herumzusitzen.
    Am nächsten Tag machte sich Henrick an die Arbeit.
    Ohne sich mit Lucilla zu besprechen, verkaufte er an der Börse Aktien seiner pharmazeutischen Firma Harteveld Chemicals, behielt eine Mehrheit für sich und überwies 1,5 Millionen Pfund des Erlöses an seinen Sohn. Er setzte sich über Lucillas Kopf hinweg, was ihn erzittern ließ, und als er allein in der holzverkleideten Bibliothek saß, schüttelte es ihn buchstäblich
vor Angst und Aufregung, wenn er daran dachte, wie sie auf diese Wahnsinnstat reagieren würde. Um dem ganzen Vorgang einige Würde zu verleihen, ernannte er Toby zum stellvertretenden Marketingdirektor, ein Job, der so sehr aufs Äußerliche beschränkt war, daß er nur alle paar Tage einen Anzug anziehen und draußen im Hauptsitz der Firma, in dem Chrom- und Glasgebäude vor Sevenoaks, sein Gesicht zeigen mußte.
    Und so wurde Toby Harteveld reich.
    Die winzige Wohnung in Lewisham mit den ältlichen Nachbarn und den schläfrigen Katzen auf den Gartenmauern gab er vorübergehend auf und kaufte das Haus in Crooms Hill, für das er Gartenarchitekten und Bauleute, Reinigungspersonal und Gärtner engagierte. Unter Verwendung seines wohlklingenden Namens in der Pharmaindustrie ließ er sich in den Verwaltungsrat des St.-Dunstan-Krankenhauses wählen. Er veranstaltete Parties, und die Villa füllte sich mit elegantem Volk: Herzchirurgen und Erbinnen, Schiffsmagnaten und Schauspielerinnen, Frauen, die wußten, wie man Rohseide trug, und Männer, die wußten, wie man mit einem Blick einen Kellner zu sich beorderte. Die Gespräche drehten sich um zukünftige Entwicklungen, Off-Theater und Dingisegeln in Kennybunkport. Er versuchte, seinem Leben Sinn und Form zu geben, und schaffte es kurzfristig, die Illusion von geistiger Gesundheit aufrechtzuerhalten.
    Aber im selben Maß, in dem er äußerlich um Vollkommenheit rang und sein Leben den Gipfel des Erfolgs erreichte, nahmen in seinem Inneren Verzweiflung und Entfremdung zu. Seine heimliche Krankheit wurde schlimmer.
    Keiner seiner Bekannten wußte von den Mädchen, für die er bezahlte, die er auf der Straße kennenlernte und nach Crooms Hill brachte, wo er sie nackt in den Garten schickte, um dort auszuharren, bis sie, blau vor Kälte, eisig und zitternd in sein Doppelbett stiegen. Oder er verlangte von ihnen, daß sie still und absolut reglos dalagen und die Augen nach oben verdrehten

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