Der Vogelmann
Sozialwohnungsblocks, der zum Pepys Estate in Deptford gehörte, während das technische Personal der Gerichtsmedizin in grünen Overalls Geminis roten GTI auf den Tieflader des Labors verlud. Hoch über ihnen trieb der Wind die Wolken von Deptford weg und zur Themse hinüber. Es war Samstag, die Vernehmungen in St. Dunstan waren auf Montag festgesetzt, und Caffery hatte nichts zu tun. Also hatte er beschlossen, sich dem Team an die Fersen zu heften.
»Haben Sie von dem Serotonin gehört? Freien Histaminen? Ersten und zweiten Larvenstadien?«
»Ich bin kein Wissenschaftler.«
»Die Wunden wurden den Opfern nach Eintritt des Todes zugefügt«, sagte Caffery. »Ich meine sehr viel später.«
Maddox steckte die Hände in die Taschen. »Das wußten wir durch die Obduktion.«
»Nein. Wir dachten, sie seien in der Hitze des Gefechts zugefügt worden, nachdem sie tot waren, als Teil des Tötungsvorgangs.« Er warf einen Blick zu dem Labortechniker hinüber, der ein weißes Schild mit der Aufschrift BESCHLAGNAHMTER BESITZ am Scheibenwischer des GTI anbrachte. »Hören Sie, Steve. Die Frauen wurden vergewaltigt. Er hat ein Kondom benutzt, weil er ein Sauberkeitsfanatiker ist oder Angst vor Aids hat, und er hat es nach Eintritt des Todes getan.«
»Nach Eintritt des Todes?«
»Deswegen gab es keine Anzeichen von Gewalt, keine Verletzung der Genitalien. Totes Gewebe reagiert nicht auf nichtinvasive Gewalt.«
»Wie sind Sie denn darauf gekommen?«
»Die Gerichtsmediziner behaupten, die Verletzungen wären den Opfern möglicherweise erst drei Tage nach Eintritt des Todes zugefügt worden.«
»Drei Tage?«
»Es hat uns keine Ruhe gelassen, warum sie nicht vergewaltigt worden sind. Und das ist die Erklärung. Er hat die Leichen bei sich behalten. Die Vergewaltigung ist vermutlich zur gleichen Zeit geschehen wie die Verstümmelung; vermutlich wiederholt und vermutlich nachdem die Leichenstarre schon nachgelassen hatte.« Caffery sah, daß sich Maddox’ Gesicht leicht anspannte. »Er ist nekrophil, Steve. Das erklärt nicht die Mühelosigkeit, mit der er sie getötet hat, aber es erklärt, warum er sie möglichst ohne Gegenwehr umbringen will, warum es keinerlei Anzeichen von Blutergüssen und blau geschlagenen Augen gab.«
»Ich glaube nicht, daß ich das hören möchte.«
»Der Tod muß schnell, ohne viel Umstände eintreten. Er ist nicht am Töten selbst interessiert. Das ist nicht der Spaß dabei. Der Spaß ist die Leiche. Er schafft sie erst dann fort, wenn sie zu verwest sind.« Maddox erschauerte, als hätte sich die Sonne hinter einem Berg versteckt. Caffery steckte die Hände in die Taschen, trat einen Schritt näher und beugte den Kopf zu Maddox.
»Der Vogelm …, der Täter behält die Leichen drei Tage bei sich, und dann, wenn der Mord selbst nur noch eine Erinnerung ist, dann verstümmelt er sie. Sie wissen, was das heißt?«
»Abgesehen davon, daß er ein noch schlimmerer Irrer ist, als wir dachten?«
»Es verrät uns mehr als das.«
Maddox biß sich auf seine Lippe. Die Regenfälle der letzten Wochen hatten nachgelassen. Heller, strahlender Sonnenschein flimmerte über das Betongebäude, und Maddox sah plötzlich alt aus. Er blickte am Rand des nahe stehenden Hochhauses zu Geminis Wohnung hinauf. »Er hat eine eigene Wohnung?«
»Ja, und er lebt allein.« Caffery folgte Maddox’ Blick zu der Wohnung. Die Vorhänge waren zugezogen. »Höchstwahrscheinlich hat er eine Gefriertruhe.«
Maddox räusperte sich. »Wir kriegen keinen Durchsuchungsbefehl für die Wohnung: Die freundlichen Richter verhalten sich uns gegenüber neuerdings politisch korrekt.«
»Nun gut.« Caffery machte sich auf den Weg zum Eingang des Gebäudes.
»Wo wollen Sie denn hingehen?«
»Ich muß Ihnen etwas zeigen.«
»Hey.« Maddox holte ihn ein. »Ich will nicht, daß Sie ihn nervös machen, Jack.«
»Das werde ich nicht.«
Im Flur starrte sie ein kleines, ungefähr zehnjähriges Mädchen mit langem fahlblonden Haar und einem rotznasigen Baby auf der Hüfte durch die Scheibe an. Sie trug ein schmutziges, rosafarbenes T-Shirt und hatte aufgeschürfte nackte Füße. Caffery klopfte gegen die Scheibe. Sie öffnete die Tür und sah sie schweigend an.
»Danke.« Er drückte den Liftknopf, und die Türen gingen auf. Er stieg ein und drehte sich zu Maddox um. »In welchem Stockwerk wohnt er?«
»Im siebzehnten. Wir werden nicht mit ihm reden, Kollege. Noch nicht.«
»Nein.« Caffery drückte auf den Knopf fürs siebzehnte
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