Der Vollzeitmann
ihrem Kleiderschrank verschwunden.
»Maik dachte nach, warum die Lust exakt in jenem Maße verschwunden war, in dem das Wort ›praktisch‹ in ihr Leben eingezogen war.«
Früher wäre er leise, aber mit anschwellender Latte aufgestanden, hätte sich angeschlichen und sie mit gierigen Griffen überzogen. Sie hätte es sich genussvoll grunzend gefallen lassen. Sie wären in einem großen Körperknäuel
auf dem Bett gelandet und drei Minuten später entspannt auseinandergefallen. Kleiner Akt, große Wirkung.Gelassen wären sie beide in den Tag gestartet.
Maik dachte nach, warum die Lust exakt in jenem Maße verschwunden war, in dem das Wort »praktisch« in ihr Leben eingezogen war. War Ulrike eine glückliche Frau? War er ein glücklicher Mann? Oder war er es zumindest einmal gewesen? Waren ihre Kinder glücklich? Oder war alles einfach nur praktisch, ihr gesamtes Leben nur darauf ausgelegt, so schnell und so reibungslos wie möglich absolviert zu werden, ohne Kurven, Kanten, Chaos.
Sie hatten Erfolg, immerhin. Maik war vom DDR-Bürger mit Gärtnerlehrezum führenden Gestalter des größten Berliner Gartencenters aufgestiegen. »Kontrolliert-kreatives Durcheinander« machte seine Entwürfe aus, hatte eine design-fixierte Stadtzeitung geschrieben. In den Dandy-Kreisen der Hauptstadt galt es inzwischen als schick, sich einen Ost-Murkel zu mieten, und sei es nur zum Aufstellen der biologisch abbaubaren Blumenkästen, die sie bei Manufaktum bestellt hatten.
Ulrike dagegen hatte sich nach der Geburt von Henry entschlossen, ihren Job als Buchhändlerin aufzugeben. Es hatte ihr ohnehin keinen großen Spaß gemacht, die erzkonservativen Weltsichten halbgebildeter und völlig zu Recht alleinstehender Zeit -Leserinnen mit Literatur-Empfehlungen zu stützen.
Auch wenn sie viel lieber Krimis und Abenteuer-Romane las, musste sie am Ende doch wieder zu Büchern raten, in denen sich tapfere kleine Frauen durch eine böse Männerwelt kämpften. Oder sie verkaufte Lebenshilfe, mehr oder weniger intellektuell verpackt. »Männer sind Schweine, oder wie ich zwanzig Kilo abnahm und meine Traumfrisur fand« - das wäre der ideale Buchtitel, den sie jeder Kundin
jede Woche aufs Neue verkaufen konnte, hatte Ulrike einmal gesagt. »Buchmarkt ist Frauenmarkt«, so lautete eine der ewigen Weisheiten der Branche. Maik hatte vollstes Verständnis dafür, dass seine Frau keine Lust hatte, unter diesen Umständen zu arbeiten.
Aber musste sie jetzt zweifelhafte Diät-Produkte im Bekanntenkreis vertreiben? Maik fand das Schneeball-Prinzip relativ unseriös, mit dem wertlose Fruchtfaser-Pillen, die nach Hundefutter schmeckten, flächendeckend verscheuert wurden. In ihrem Carport-Ghetto gab es noch zwei weitere Damen, die ebenfalls mit maßlos überteuerten Schlankheitsmittelchen von Tür zu Tür zogen.
Immerhin stand Ulrike jetzt unter dem Druck, tatsächlich abnehmen zu müssen. Maik wusste: Das war ihr Kick. Es ging nicht darum, ein paar hundert Euro nebenher zu verdienen oder was Eigenes zu haben. Sie wollte sich selbst unter Druck setzen. Ihre persönliche, für alle Bewohner der Siedlung sichtbare Story sollte das ideale Verkaufsargument werden. »Wie haben Sie denn das geschafft?«, wollte Ulrike in spätestens drei Monaten von Nachbarinnen, Spielplatzbekanntschaften und Mitschülereltern gefragt werden. Dann würde sie ganz lässig auf ihre Pillen hinweisen und serienweise Jahres-Abos verkaufen.
Das postmoderne weibliche Ideal von der totalen Unabhängigkeit faszinierte Ulrike nicht sonderlich; sie hatte keine Probleme damit, sich ökonomisch und emotional einem Mann anzuvertrauen. Ihr großer Traum war der von der ewigen heilen Familie. Dafür war sie bereit, jedes erdenkliche Opfer zu bringen: ihren Job aufzugeben, zu kochen, zu putzen, ihrer Brut vierundzwanzig Stunden am Tag den Hintern nachzutragen, ihr gesamtes Leben auf dem Altar der Heiligen Vielfaltigkeit von Vater, Mutti und Kindern preiszugeben, selbst ihren früher so prallen Po, der inzwischen
leider eine gewisse Lappigkeit aufwies. Immerhin hatte sie gemerkt, dass auch das teuerste Walking-Equipment gegen den Verfall so wenig half wie Aspirin gegen Krebs.
Ulrike nutzte ihre demonstrative Selbstaufopferung zugleich knallhart zur emotionalen Geiselnahme. Der unausgesprochene Text lautete: Wenn ich mein Leben gebe, um unsere Familie zu hegen, lieber Maik, dann stehst du auch in der Verantwortung. Es wäre unfair, mich erst in die totale Abhängigkeit zu zwingen und dann
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