Der Vollzeitmann
Fischer und Abramczik. Bis auf die Geburt und das erste Mal Sex hatten sie praktisch alle wichtigen Momente ihrer Leben geteilt. In den Jahren des ersten Dotcom-Hypes hatten sie zusammen eine Firma gegründet, die so was Ähnliches wollte wie Google. Mit ein paar Tausendern mehr hätten sie es vielleicht geschafft, dann hieße Google jetzt nicht »Google«, sondern »JoBrett«. Bretti war ganz kurz davor gewesen, den entscheidenden Logarhythmus zu programmieren.
Leider waren ihre Rechner zu langsam gewesen. Der Typ, der sie an die Börse bringen wollte, erwies sich zudem als Gangster. Bis zum vergangenen Jahr hatten sie die Schulden aus der Insolvenz abgestottert, heldenhaft gemeinsam. War das jetzt alles nichts mehr wert, nur weil Bretti einen Weg sah, seinen Samenstau aufzulösen? Für einen gottverdammten System-Administrator hatte Bretti eindeutig zu viele Hormone.
Jochen überlegte: Er könnte versuchen, Bretti umzudrehen. Mit einem Kasten Veltins und einer Flasche Goldkrone hätte er ihn so weit. Bretti würde ihm morgens um drei schluchzend um den Hals fallen, laut greinen »wie konnte ich nur, Alter …« und Julia bei nächster Gelegenheit in ihren mittelguten Hintern treten.
Was aber, wenn Julia konterte? Wenn sie beim nächsten »Meat and Greet« noch hemmungsloser schreien würde, und zwar Dinge, die nicht mal Jochen seinem alten Kumpel Bretti bieten konnte, zum Beispiel in Phase III, nach Luft ringend, winselnd, kieksend, flehend, betend: »Ooooh, ja, du machst das so gut, so hart, du bist der geilste Liebhaber
der Welt! Bitte, geh nie wieder raus!« Dagegen hätte selbst er mit einem Fass Goldkrone keine Chance. Julia, die alte Schlange, würde diesen Trumpf knallhart ausspielen.
Die Wahrheit krachte wie eine Keule zwischen Jochens Augen: Er hatte verloren. Er war raus aus dem Spiel. Bretti war Geschichte. Aus. Vorbei. Entscheidend war jetzt nur noch, wie er mit der Niederlage umgehen würde. Er könnte jetzt tage-, wochen-, monatelang jammern und sich zum Vollidioten machen. Aber mit welchem Ergebnis? Im schlimmsten Fall litt sein wichtigstes Projekt - Beyond Cool . Außerdem würde Bretti seinen Teil an der Kaution abdrücken müssen. Und damit konnte Jochen die zwei Monate Mietrückstand begleichen, fast jedenfalls. Jochen schluckte einen großen Kloß Trauer herunter, erhob sich so elegant wie möglich von seiner Matratze und aktivierte seinen Rechner.
Er überlegte, welcher Kleinanzeigentext einigermaßen entspannt klänge. Klar, die Schlüsselworte lauteten: Radio-Moderator, frauenfrei, unschwul, bezahlbar, gute Lage, keine behämmerten WG-Rituale, überhaupt keine erzkonservative altlinke Dogmen-Scheiße, eher ultra-liberal. Wenn er ehrlich war, hatte Jochen nichts dagegen, auch in Zukunft zumindest Ohrenzeuge eines sexuell überdurchschnittlich aktiven Mitbewohners zu werden.
Nach vielen Korrekturen, mit denen er vor allem jedes Anzeichen von Verbitterung bekämpft hatte, war Jochen so weit: »Radio-Moderator bietet ab sofort großes helles, renoviertes Zimmer im Bestwesten. Putzfrau statt WG-Irrsinn. Nur unkomplizierte Bewerber.«
Jochen fragte sich selbstkritisch, wie er als Zimmersuchender auf eine solche Anzeige reagieren würde. Er beschloss, dass der Ton eine Spur arrogant, aber in Ordnung war. Es war ein erwachsener Sound.
Blieben zwei Probleme: Er brauchte erstens eine Putzfrau. Und musste zweitens Brettis Zimmer so schnell wie möglich renovieren; Minimum waren Plane, Klebeband, Rolle, Pinsel und zwei Eimer Alpina . Baumärkte waren fast so sehr Frauenhaus für Männer wie Tankstellen. Wie sollte er all diese Aufgaben lösen? Und dann musste er auch noch drei Stunden in seinem neuen Job schrubben, mindestens. Endlich schlief Jochen ein.
Das schlechte Gewissen quälte Attila. Seit Jahren hatte er keinen Morgen mehr im Bett verbracht, schon gar nicht krank. »Der frühe Vogel fängt den Wurm« - wenn ein Sprichwort stimmte, dann dieses. Aufstehen können, das war der Nachweis von Disziplin, Verantwortung und Ernsthaftigkeit. Nur heute eben nicht.
Immerhin schien alles ruhig zu sein in der Firma, meldete der Blackberry . Attila hatte einige Mails geschickt, um gerade heute zu prüfen, wer ab wann am Platz war und wie lange der für eine Antwort brauchte. Die Bande sollte nicht glauben, dass die Mäuse heute auf dem Tisch tanzen durften, nur weil die Katze mal nicht da war.
Camille war bereits gegangen. Sie setzte sich morgens gern ins Café an dem kleinen Platz um die Ecke und
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