Der Wachsmann
was, wie ich betonen will, keineswegs bewiesen ist–, so sollten die Ankündigungen doch notwendigerweise eine Art Prophezeiung enthalten. Stimmst du mir hierin zu?«
»Es erscheint mir zweckmäßig«, bestätigte Peter.
»Der einzig diesbezügliche Hinweis aber ist die schon erwähnte Stelle, die der Kirchenlehrer auf Judas bezieht: Sein Amt erhalte ein anderer! Wenn wir nun Judas ganz allgemein als Symbol für den Verräter sehen, dann könnte die Stelle auch bedeuten, daß irgend jemand, dem man Verrat vorwirft, aus seinem Amt vertrieben werden soll.«
»An wen denkt Ihr?« fragte Peter besorgt.
»Ich weiß nicht. Es könnten viele dafür in Frage kommen. Doch in erster Linie scheinen mir diejenigen gefährdet, welche die Macht in Händen halten oder darum ringen.«
»Ihr meint die hohen Herren im Rat?«
»Gewiß. Aber auch Edle, Fürsten, ja sogar Männer der Heiligen Kirche. Auch Äbte und Kardinäle sterben nicht selten eines gewaltsamen Todes. Laß mich mal sehen.« Prior Konrad studierte nochmals den zweiten Text.
»Merkwürdig.«
»Was?«
»Der Löwe. Hier steht: Das Gebiß der Löwen wird der Herr zerbrechen. Warum ausgerechnet der Löwe?«
»Ich verstehe nicht.«
»Nun, der Löwe ist ein starkes Symbol. Er steht für vieles, zum Beispiel für Tapferkeit, Beharrlichkeit und Leben. Der Physiologus lehrt uns, daß die Löwin ihre Jungen zunächst tot gebiert. Ihr Vater aber bläst ihnen am dritten Tag ins Antlitz und ruft sie so ins Leben. Der Löwe ist daher seit alters ein Sinnbild für Christi Auferstehung. Andere wiederum sehen in ihm die Verkörperung des Teufels. Und schließlich dient er auch häufig als Reittier von Superbia. Während meiner Studien in Frankreich sah ich Bildwerke in den Kathedralen, auf denen Könige auf Löwen sitzend, kopfüber in die Grube stürzen. Die Könige verkörpern dabei Stolz und Hochmut.«
»Könige sagt Ihr?«
»Ja sicher.«
Peter fühlte sich plötzlich an die Worte des Doktor Friedericus erinnert. Der hatte von Anmaßung und Vermessenheit gesprochen und König Ludwig den Tod vorhergesagt. Sollte dies doch nicht nur Geschwätz gewesen sein? Er offenbarte seine Besorgnis dem Prior, der sie jedoch kaum teilen mochte.
»Ausgerechnet Ludwig? Nein, ich kann nicht glauben, daß ihm solcherart Gefahr drohen soll. Nur ein verbrecherischer Narr wäre zu einem Anschlag auf ihn und seine Herrschaft fähig.«
»Aber es heißt, die Österreicher sinnen auf Rache, und vielleicht steckt gar sein Bruder mit ihnen im Bunde.«
»Richtig, mein Sohn: Sie sinnen auf Rache. Doch ihr Tun ist nicht von Segen begleitet, weil unrecht. ›Die Rache ist mein‹, spricht der Herr, und wir Sterbliche haben uns seinem Urteil zu beugen. Sei daher versichert, daß Ludwig über seine Feinde triumphieren wird, so wie er bei Gammelsdorf und bei seiner gerechten Wahl obsiegte.«
»Gebe Gott, daß Ihr recht behaltet«, wünschte Peter.
»Ludwig hat noch stets die Aussöhnung mit seinem Bruder gesucht, und er hat den Streit mit den Waffen nur aufgenommen, wo er ihm aufgezwungen wurde. Und sieh nur sein großmütiges Verhalten nach der Schlacht. Er hat Friedrich bei der Versöhnung umarmt und seine Ritter für Spottgeld freigegeben. Ich sage dir, mein Sohn, wenn Großmut und Verzeihung königlich sind, dann ist der Herr Ludwig unser wahrer König.«
Der Prior war zuletzt fast ins Schwärmen gekommen, und Peter fragte daher: »Ihr kennt ihn, ich meine persönlich?«
»O ja, ich hatte schon mehrmals die Ehre, bei Hofe die Messe zu lesen und ihm die Beichte abzunehmen. Und ich hoffe, ich werde noch lange und oft die Gelegenheit dazu erhalten.«
»Ich wünschte«, sprach Peter träumerisch mehr zu sich selbst, »ich könnte ihm eines Tages ebenfalls begegnen.«
»Das wünschen viele junge Männer wie du«, lachte der Prior, »und wer weiß, eines Tages… Ich muß nun gehen. Meine Brüder erwarten mich im Refektorium, und es steht gerade mir als ihrem Vater schlecht an, säumig zu sein.«
»Habt Dank, daß Ihr Euch soviel Zeit für mich genommen habt.« Peter erhob sich und wandte sich ebenfalls zum Gehen.
»Oh, da fällt mir eben noch ein…«, der Prior faßte Peter am Arm und hielt ihn zurück. »Der König auf dem Löwen… aber ja, warum bin ich nicht gleich darauf gekommen. Der König auf dem Löwen ist König David mit dem Löwen von Juda. Wo war es gleich noch…« – der Prior tippte nachdenklich mit dem Zeigefinger auf die Lippen –, »hab’ ich das Bildwerk in Chartres
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