Der Wachsmann
als hätte jemand den gesamten Bestand der Kramer und Hausierer Münchens aufgekauft und wahllos im Raum verteilt. Peter bekam eine Ahnung davon, warum sein älterer Freund in erster Linie die Gaststube als sein Zuhause betrachtete.
»Oh, du kannst deinen Sack hier abstellen«, forderte Paul ihn auf und öffnete die Tür zu einem angrenzenden Raum. Es war mehr eine Art Verschlag, fensterlos und ebenfalls atemberaubend vollgestellt. Seitlich lag ein Strohsack, und Peter ließ seine Habe darauf sinken.
»Es ist vielleicht nicht die Art Behausung, die einem wohlverdienten Pfleger zusteht« – Paul warf sich lachend in die Brust –, »aber sie hat auch Vorteile. Du riechst ständig den Abtritt und den Gestank der Weißgerber und freust dich daher jeden Morgen auf deine Arbeit an der Lände. Und die bissige Alte läßt einen selbst die Entbehrungen weiblicher Gesellschaft verschmerzen.«
Paul stellte keine Fragen, und Peter war nicht – zumindest jetzt nicht – geneigt, auf den Streit mit Agnes näher einzugehen. Außerdem quälte ihn augenblicklich mehr die Sorge um Perchtold, und sie mußten unverzüglich handeln.
»Die Kerle, die den Buben entführt haben, suchen irgend so ein Siegel«, klärte er Paul auf. »Und ich glaube, solange sie das noch nicht haben, ist Perchtold in Sicherheit.«
»Was hat das mit dem Jungen zu tun?« fragte Paul verständnislos, und Peter erklärte notgedrungen die ganze Geschichte.
»Woraus schließt du denn«, hakte Paul zweifelnd nach, »daß sie das verfluchte Ding nicht schon längst haben und Perchtold…« Er beendete den Satz nicht, fügte aber hinzu. »Der Bub wird ihnen unter Druck doch längst alles verraten haben.«
»Vielleicht, vielleicht auch nicht.« Peter wog das Haupt und verzog fragend sein Gesicht. »Sie haben danach gesucht, soviel ist sicher. Aber ich glaube nicht, daß sie es auch gefunden haben. Sonst hätten sie in der Kammer von Agnes nicht so gewütet. Das Dumme ist nur, daß wir es auch nicht haben. Dabei habe ich jeden Winkel durchsucht. Wir hätten es als Lösegeld benutzen und Perchtold damit vielleicht freikaufen können.«
»Wir könnten ja so tun, als ob«, schlug Paul vor.
»Hm, das ist gefährlich. Die Kerle schrecken offenbar vor nichts zurück. Aber ich würd’s auf mich nehmen«, versicherte Peter. »Doch was tun wir, wenn sie anbeißen und wir haben nichts in Händen?«
»Wir stellen ihnen mit den Knechten des Richters eine Falle.«
»Pah!« winkte Peter verächtlich ab. »Der Diener hat mich doch freitags schon so abblitzen lassen. Der wird keinen Finger rühren. Aber ich hab’ da so eine Idee«, verkündete er zuversichtlich. »Hör zu…«
»Na los, nun lauf schon, Kunz! Sei nicht so faul! Und du, Bruno, hol dir das Brot! Hopp, hopp! Oder muß ich erst böse werden?«
Die beiden Ratten zögerten, schnupperten argwöhnisch und tippelten schließlich durch den schmalen Gang aus Brettchen und Holzstückchen, an dessen Ende die verlockenden Brotkrumen lagen. Der Knabe lächelte und war stolz auf seine Dressurleistung. Erst hatte er die gierigen Nager gefürchtet, als sie ihn im Dunkeln umkreist und beschnuppert hatten und schließlich sogar frech über seine Beine gehuscht waren. Inzwischen war er regelrecht froh über ihre Gesellschaft, denn sie halfen ihm, die Ungewißheit zu vergessen und die quälend langsam verrinnende Zeit mit Leben zu erfüllen. Perchtold hatte ihnen die Namen seiner Intimfeinde vom Grieß gegeben und freute sich diebisch, daß er sie immer besser in den Griff bekam.
Doch die Ratten waren nicht nur neugierig und gefräßig, sondern in ihrer unsteten Art auch schnell wieder verschwunden. Dann krochen Angst und Verzweiflung wieder in ihm hoch, und er schluchzte leise vor sich hin und sehnte sich von ganzem Herzen nach Hause. Laut zu heulen und zu rufen getraute er sich nicht mehr, nachdem ihm der Pockennarbige unmißverständlich gedroht hatte, er werde ihm das Licht ausblasen, wenn er noch einmal brülle. Es mußte schon unendlich lange her sein, seit er in diesem düsteren und muffigen Loch gefangengehalten wurde. Aber er erinnerte sich noch genau an den schrecklichen Augenblick, als ihn der Dicke angestarrt, erkannt und boshaft angelächelt hatte. Peter hatte nicht reagiert und war einem Weiberrock hinterhergelaufen. Da hatte er sich einfach zwischen die nächststehenden Buden gedrückt und versucht, sich davonzustehlen. Und auf einmal wurde er gepackt. Jemand stopfte ihm statt leckerer Kuchenkringel einen
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