Der Wachsmann
Geld, du Narr!« warf der Dicke wütend ein. »Wir brauchen das Siegel.«
»Nun warte doch! Ich habe vorsichtig gefragt, was denn wohl wäre, wenn der Junge aus einem ganz bestimmten Grund verschwunden und jemand daran interessiert sei, etwas ganz Bestimmtes wiederzubekommen.«
»Bist du verrückt? Willst du uns die Meute des Richters auf den Hals hetzen?«
»Fahr zur Hölle!« keifte der Pockennarbige zurück. »Für wie dämlich hältst du mich? Schließlich bist du der Narr, dem man das Siegel geklaut hat.«
Der Dicke bebte zwar vor Zorn, erwiderte aber nichts. So fuhr der andere fort: »Der Klugscheißer hat angedeutet, er habe da etwas läuten hören, und er könne vielleicht herausbekommen, ob jemand an einem Tauschgeschäft interessiert sei. Ich soll ihn morgen abend beim Angerwirt wiedertreffen.«
»Und wenn es eine Falle ist? Ich trau’ dem Burschen nicht über den Weg.«
»Ach was. Ich werd’ schon achtgeben. So bekommen wir das Siegel und einen Batzen Geld obendrein, wenn wir’s nur geschickt anstellen.«
»Und einen Haufen Ärger und den Strick um den Hals, wenn es schiefgeht«, argwöhnte der Dicke. »Der Junge muß auf jeden Fall verschwinden, am besten gleich. Er hat zuviel gesehen und gehört.«
»Hast du vor Angst den Verstand verloren?« polterte der Pockennarbige. »Erst will ich sehen, was durch ihn zu holen ist. Dann kannst du meinetwegen mit ihm tun, was du willst.«
Die beiden Männer stritten sich noch eine Weile, aber Perchtold wich entsetzt in den hintersten Winkel der Kammer zurück. Die Unsicherheit wurde zur Gewißheit: Sie würden ihn nicht laufenlassen. Niemals würde er nach Hause zurückkehren…
Der rauschende Mühlbach trug das herzzerreißende Schluchzen des Jungen mit sich fort.
Am Morgen des ersten August ging Peter gesenkten Hauptes und tief betrübt nach St. Peter, um der Frühmesse beizuwohnen. Es war Petri Kettenfeier, und im fernen Rom wurden an diesem Tag die verehrungswürdigen Ketten zur Schau gestellt, an denen der Apostelfürst im Kerker gehangen hatte. Um den Juden zu gefallen, hatte einst König Herodes nach der Enthauptung des Jakobus auch den Petrus ergreifen lassen. Die junge Christengemeinde flehte daraufhin Tag und Nacht zu Gott um seine Befreiung. Am Abend vor seiner Hinrichtung lag Petrus in Ketten und von sechzehn Soldaten bewacht in seinem Gefängnis, als um Mitternacht in hellem Lichte ein Engel erschien, alle Ketten von dem Apostel abfallen ließ und ihn unversehrt nach draußen geleitete.
Nie zuvor hatte Peter inständiger um die Fürbitte seines Namenspatrons gebetet, damit der Herr am unschuldigen Perchtold das Wunder wiederhole. Er wußte sich keinen anderen Rat mehr, nachdem auch der gut ausgedachte Plan gescheitert war. Am Sonntag nachmittag hatte er mit Paul zusammen den Nickel Caspar gesucht und ihn unter Druck gesetzt: »Du bist mir noch etwas schuldig für die Marktgeschichte!«
Caspar hatte daraufhin mehr oder weniger bereitwillig das Gerücht von der Belohnung und dem Lösegeld für Perchtolds Rückkehr ausgestreut. Aber am Montag abend, als Caspar im Gasthaus gewartet und Peter und Paul gut versteckt auf der Lauer gelegen hatten, da war niemand erschienen. Auch am folgenden Tag hatte sich niemand an den Nickel gewandt, und Peter hatte seither alle Hoffnung fahrenlassen.
Nach der Messe schlich er mit hängenden Schultern, als trüge er selbst alle Ketten dieser Welt, durch das Tal zur Lände hinaus. Er hatte kaum das Kaltenbachtor passiert, als er weit draußen einen Knaben sah, der eben im Laufschritt über die Laimbrücke eilte. Das plötzliche Erkennen war gegenseitig, und im Sturmlauf rannten sie aufeinander zu. Atemlos sprang Perchtold in Peters offene Arme, der ihn herumwirbelte und drückte, bis beide vor Freude heulten.
»Mein Gott, was hab’ ich mir Sorgen gemacht um dich«, stöhnte Peter, während er zugleich um eine schwere Last erleichtert war.
»Die wollten mich umbringen«, stieß Perchtold hechelnd hervor, »der böse Fettwanst und so ein häßlicher Kerl… solche Angst gehabt… bin ihnen entwischt… müssen sie fangen und totschlagen…«
»Langsam, langsam!« bremste Peter. »Jetzt sind wir erst einmal froh, daß du wieder hier bist, und du läufst jetzt ganz schnell zur Mutter, um ihr die gute Nachricht zu bringen.«
»Kommst du nicht mit?« fragte der Junge enttäuscht.
»Hm.« Peter zögerte ein wenig. Aber wie hätte er der Agnes besser wieder unter die Augen treten können, als mit Perchtold an
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