Der Wachsmann
lauter die Sünden ihrer Mitmenschen an, und einige taten ihr Bestes, um auch sogleich noch die Schuldigen zu benennen. So gefiel sich ausgerechnet im Viertel, das am ärgsten betroffen war, der Dominikaner, der unlängst schon mit dem Finger auf Agnes gezeigt hatte, darin, die Furcht vor Verdammnis und das Feuer der Vergeltung zu entfachen. Und Unsere Liebe Frau, die im Gegensatz zu manchem ihrer Diener mitfühlend und schützend ihren Mantel über alle breitet, die hilflos und reinen Herzens sind, mußte mitanhören, wie der Eiferer einen Keil zwischen die Friedfertigen trieb, falsche Anschuldigungen erhob und den Haß damit schürte.
Er begann seine Strafrede wortgewaltig mit einer Stelle aus der Apokalypse: »So rief der Engel des Herrn mit mächtiger Stimme: ›Babylon, die große Hure, ist gefallen! Sie war zur Behausung für Dämonen geworden, zum Unterschlupf für jeglichen unreinen Geist und für alles abscheuliche Gefieder. Die Könige dieser Erde buhlten mit ihr, und die Kaufleute sind reich geworden an ihrer maßlosen Üppigkeit.‹«
Der Mönch deutete hinüber zum Lettner, auf dem mit einprägsamen Figuren das Jüngste Gericht dargestellt war. Die mächtige Schranke sonderte den Chor von dem Raum ab, der für das Volk bestimmt war. Sie ließ nur eingeschränkten Blick auf den Altarraum zu und ebenso drang auch das Licht, das durch die ostseitigen hohen Fenster in den Chorraum flutete, nur abgeschwächt und gebrochen nach draußen. Einem kritischen Geist hätte es geradewegs so vorkommen müssen, als sollte auch die Wahrheit nur gebrochen und ausgedünnt das gemeine Volk erreichen, das sich indes inbrünstig den Schrecken und Verheißungen des Endgerichts zuwandte.
»Letzte Nacht, meine Brüder und Schwestern, ist euch eine seltene Gnade zuteil geworden, denn ihr durftet in der zerstörenden Gewalt des Hagelsturms den Schrecken des kommenden Gerichts erahnen und seid doch noch einmal davongekommen. Die Zeit ist noch nicht reif, aber die Zeichen sind deutlich. Ihr wiegt euch in trügerischer Sicherheit und spottet: ›Babylon ist weit.‹ Doch wie einst an den Wassern des Euphrat, so sind viele in dieser Stadt hochmütig und verblendet, und sie lästern Gott. Sie wollen sein wie Gott, wie es vormals Luzifer sich angemaßt hat. Wie viele, die sich heuchlerisch noch Christen nennen, haben längst ihren Pakt mit der Hölle geschlossen. Ihr glotzt wie die Lämmer! Ihr glaubt mir nicht? So wisset, daß schon der heilige Augustinus lehrte, daß der Ars magica ein Vertrag mit den Dämonen zugrunde liegt. Und alle großen Männer bis hin zu Albertus Magnus haben dies bestätigt. Und dessen Schüler Thomas, der große Gelehrte aus Aquin, warnte uns, daß schon die kleinste superstitio, also der Aberglaube, auf pacta tacita et implicita beruht. Ihr wollt die Zukunft wissen und sucht sie arglos im Kräuseln des Wassers oder im Flusse des Bleis zu ergründen, und habt damit schon einen stillschweigenden Pakt mit der Hölle geschlossen. Einige unter euch prahlen, daß sie den Versucher, wenn er an sie herantritt, allemal erkennen an seiner häßlichen Bocksgestalt oder an seinem gräßlichen Gestank von Schwefel und Verwesung. Oh, ihr Narren! Der Teufel nähert sich euch in der Gestalt von Pferden und Hunden, von Katzen und Kröten. Er nimmt die Züge des biederen Landmanns und des feschen Soldaten an. Er begegnet euch als hübsche Jungfer und als weise Alte. Er ist – so tat uns Cäsarius von Heisterbach kund – der Affe Gottes, der jegliche Gestalt nachahmt.«
Die Menge folgte mit angsterfüllten Blicken dem ausgestreckten Arm des Predigers, der auf die Kapitelle der alten Säulen verwies, von denen allerlei Getier, wilde Bestien und Fratzen herunterstarrten.
»Ubique daemon, der Teufel ist überall! Und es wird euch nichts nützen, wenn ihr dereinst beteuert, ihr hättet es nicht gewußt. Weit schlimmer aber wird es denen ergehen, die sich wissentlich und per pacta expressa auf Teufelswerk einlassen. Sie rufen Unwetter und Hagelstürme herbei und vernichten die Ernte. Sie fertigen Wachsbilder an, belegen diese mit höllischen Flüchen und bewirken so Tod und Verderben. Doch selbst diejenigen unter euch, deren widerliches Treiben den Teufel erfreut, können noch gerettet werden, wenn sie bereuen.
So höret denn die Geschichte des Theophilus, wie sie uns die Legenda aurea übermittelt! Einst war Theophilus die rechte Hand des Bischofs von Sizilien. Er war bescheiden und übte sich in Demut. Doch als er durch
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