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Der Wachsmann

Der Wachsmann

Titel: Der Wachsmann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Rötzer
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zwar unklar, aber in seinem Haß auf die Obrigkeit fügt er sich nahtlos ein.«
    »Vielleicht liegt den Kerlen zunächst nur daran, möglichst viel Unordnung und Chaos in der Stadt zu stiften, um sich der Unzufriedenheit und Angst der Bürger zu bedienen und damit einen Umsturz herbeizuführen, wofür sich eine Krisenzeit wie der bevorstehende Krieg mit den Österreichern hervorragend eignet.«
    Peter stimmte Paul zwar erneut zu, verwies aber in des Richters Manier darauf, daß ihre Befürchtungen bislang noch immer spekulativ seien. Und er fügte abschließend hinzu: »Ich bin gespannt auf den morgigen Besuch bei den Pütrichs.«
    »Wir haben den Gottschalk ganz vergessen«, hakte Agnes noch einmal ein und deutete auf die Liste.
    »Richtig«, befand Paul, »aber der arme Tropf rast auf den Wahnsinn zu und ist damit selbst genug geschlagen.«
    Sie lachten alle drei, stießen die Krüge zusammen und waren sich einig in der Beurteilung des närrischen Pfaffen.

23. Kapitel
     
    Pünktlich zur vereinbarten Stunde fand sich Peter beim Stadtrichter ein, der eben noch der Magd seine Wünsche fürs Mittagsmahl auftrug, bevor sie sich auf den Weg machten. Der Gerichtsschreiber war ebenfalls schon eingetroffen.
    Peter fühlte sich anfangs etwas eigenartig, als er neben der imposanten Gestalt des obersten Gesetzeshüters einhertrabte, zumal ihm nicht entging, daß die Leute aus der Straße ihm unverhohlen fragende Blicke zuwarfen. Und als er sich zweimal umdrehte, sah er jedesmal, daß die Gaffer tuschelten und dabei mit Fingern in seine Richtung wiesen. Aber es konnte eigentlich nur Gutes und Bewunderung sein, was man so über ihn redete, denn schließlich bewegte er sich frei und ungebunden an der Seite des Richters, und so dauerte es nicht einmal bis zur Einmündung in den großen Markt, bis Peter begriffen hatte und die Gunst der Stunde zu nutzen wußte. Er warf sich in die Brust und stolzierte nun hoch erhobenen Hauptes neben dem Richter daher, bald hierhin, bald dorthin nickend, so als würden die Grüße der Bürger in gleichem Maße ihm wie dem Richter gelten.
    »Denkt daran«, schärfte ihm Konrad Diener ein, als sie vor dem Haus der Pütrichs standen und er den schweren Türklopfer betätigte, »das Gespräch führe ich!«
    Es dauerte eine kleine Ewigkeit, bis Anselm zur Pforte geschlurft kam. Er ließ die Besucher im Hausflur warten, während er die beschwerliche Stiege ins Obergeschoß erklomm, um die gesamte Familie zusammenzurufen. Wenig später waren lebhaftes Gemurmel und eilige Schritte zu vernehmen. Gleich darauf kam Ludwig Pütrich, der Sohn des Kaufmanns, lächelnd die Stiege herab und begrüßte die drei Ankömmlinge.
    Peter war die Situation ein wenig peinlich, denn der junge Pütrich war so offen, als handle es sich um einen weiteren Krankenbesuch, dabei sollte die heutige Unterredung eher einem Verhör gleichkommen.
    Der Rest der Familie hatte sich inzwischen im Obergeschoß versammelt, wo der alte Pütrich dem Richter gerade mal einen Schritt entgegen kam.
    »Gott zum Gruß. Ihr kommt unerwartet.« Er hätte genausogut »ungelegen« sagen können. Der deutliche Vorwurf war nicht zu überhören. Er wies dem Richter einen Stuhl an der dem Fenster zugewandten Stirnseite des Tisches zu und seinem Schreiber daneben, während er Peter einfach überging. Der Richter zog kurzerhand den Stuhl zu seiner Linken etwas vor und forderte Peter ungeniert auf, darauf Platz zu nehmen.
    Heinrich Pütrich nahm den Platz an der gegenüberliegenden Stirnseite ein, der Bruder saß links davon, sein Sohn zur Rechten. Birgit Pütrich stand rechts hinter ihrem Mann, an die hohe Lehne geschmiegt, als wolle sie besondere Nähe zu ihm demonstrieren. Sie würdigte Peter keines Blickes.
    Es war ein eigenartiges Bild, und Peter fühlte sich – einer Vision gleich – mit einem Mal an die Lehre von den Welt-und Lebensaltern erinnert, von der er in der Klosterschule gehört hatte. Der Mensch durchlief während seiner irdischen Reise sechs Perioden vom Säuglings-bis zum Greisenalter. Und analog dazu hatte der heilige Augustinus sechs Epochen der Heilsgeschichte festgelegt, von denen mit Christi Geburt die sechste und letzte angebrochen sei. Das bedeutete, daß alles unweigerlich einem baldigen Ende zuging, daß sich die gesamte Menschheit – gleich ob neugeboren oder steinalt – heilsgeschichtlich bereits im Greisenalter befand. Peter sah es eben in grausamer Deutlichkeit vor sich. Da saß unweit von ihm der junge Ludwig Pütrich

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