Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Wachsmann

Der Wachsmann

Titel: Der Wachsmann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Rötzer
Vom Netzwerk:
hast du den armen Kerl gestohlen?… Was sind Ludwigs Pläne?… Rede schon, oder du hast im Loch Zeit, dich zu besinnen, bis dich der Henker befragt!«
    Peter sah wortlos in die geifernden Fratzen seiner Ankläger und fühlte, wie ihn plötzlich tiefe Mutlosigkeit ergriff. Wie sollte er sich gegen diese verrückten Vorwürfe verteidigen? Wie könnte er sich gegen ein solches Übermaß an Dummheit behaupten? Er dachte unwillkürlich an die Stelle in der Schrift, an der Pilatus den Herrn befragte: »Hörst du nicht, was sie alles gegen dich vorbringen?« Doch der antwortete nichts mehr. Peter glaubte in diesem Augenblick, die Beweggründe für Jesu Schweigen nur allzugut zu verstehen. Aber würde das auch bedeuten… Nein! Sie durften ihn doch nicht einfach hängen… ihn kaltblütig umbringen, für etwas, das er nicht getan hatte! Er flehte voller Angst darum, daß der Allmächtige seine Not verstehen und ihm einen rettenden Engel schicken möge.
    In der Meute, die sich am Tor drängte, war es plötzlich ruhig geworden, und die Gaffer rückten etwas auseinander. Durch die schmale Gasse schritt energisch eine Frau, ganz in Schwarz gekleidet. Sie war von kleiner und eher etwas rundlicher Gestalt. Das Gesicht, gewöhnlich geschmückt durch die natürliche und frische Färbung, die der Landbevölkerung zu eigen ist, wirkte bleich und ausgezehrt. Unter den dunklen Augen lagen schwarze Schatten, die von großem Kummer zeugten. Die Zahl ihrer Jahre war schwer zu schätzen. Die Meister der Minne hätten vielleicht nicht ihre Schönheit besungen, die als solche ja auch vergänglich ist. Aber es lag etwas unvergleichlich Anmutiges in ihrem Wesen, das selbst die Düsternis, die jetzt über ihr lag, nicht schmälern konnte. Es schien gar so, als verliehe ihr der Schmerz auf eine schwer erklärbare Weise zusätzliche Würde. An der Hand hielt sie einen Knaben, der sich angesichts der Menge zwar schutzsuchend an ihren Rock drängte, dessen lebhafte Augen aber dennoch stolze Zuversicht versprühten. Perchtold, der während des Tumults gedankenschnell verschwunden war, hatte sich von Marktfrauen ganz unverfänglich den Weg zu Jakobs Witwe zeigen lassen, hatte ihr, so gut er es mit kindlichen Worten vermochte, die Umstände dargelegt und sie sogleich flehentlich in Richtung des üblen Geschehens gezerrt.
    Die Witwe trat nun sicheren Schritts und erhobenen Hauptes in die Wachstube, was die Wächter einen Augenblick verdutzt innehalten ließ, bevor der Dicke sie barsch anfuhr: »Was sucht Ihr hier, Frau? Seht Ihr nicht, daß wir zu tun haben?«
    »Ich seh’ es wohl, doch scheint mir Euer Tun verwerflich«, entgegnete Lies mit ruhiger, sicherer Stimme.
    Dem Wächter schoß die Zornesröte ins Gesicht. »Seid Ihr verrückt, so mit uns zu reden? Soll ich Euch…«
    »Was?«
    Die Witwe sah ihn mit ihren dunklen Augen seelenruhig, aber zugleich auch so durchdringend an, daß die Forschheit des Dicken zerbröselte wie das Stadttor unterm Rammbock. Er schaute verlegen zur Seite und fragte, schon etwas kleinlaut: »Was wollt Ihr von mir? Wir haben eine wichtige Untersuchung zu führen.«
    »Ich will den Leichnam meines Mannes.«
    »Wie kommt Ihr darauf«, schaltete sich der zweite Wächter keck ein, »ich meine…«
    »Schweigt!« gebot ihm die Witwe kurzerhand. »Oder habt Ihr keine Ehrfurcht vor den Toten?«
    »Ha, der Tote ist ein pest… pesti… na, ein Kadaver eben, der uns die Seuche an den Hals hängt!«
    »Halt’s Maul!« fuhr ihn nun gar der Dicke an. »Woher nehmt Ihr die Sicherheit, daß der Tote Euer Mann ist? Habt Ihr ihn schon gesehen?«
    »Ich weiß es«, sagte sie mit ruhiger Bestimmtheit, »und bitt’ Euch um Christi willen, gebt ihn mir für ein ehrsames Begräbnis.«
    Während der Wächter weiter nach Ausflüchten suchte und zögernd Einwände erhob, blickte Lies nun zum ersten Mal auf Peter, zu dem sich Perchtold geflüchtet hatte. Ihre Augen ruhten mit einer Sanftmut auf ihm, daß Peter ganz sonderbar zumute wurde. Das also war Lies. So hatte er sich seine Begegnung mit ihr weiß Gott nicht vorgestellt. Hatte er sie noch kurz zuvor als schutzloses, zerbrechliches Wesen gewähnt, so stand er jetzt einer Frau gegenüber, deren Selbstsicherheit ihm Bewunderung abnötigte. Und er wunderte sich noch mehr, als sie nun wie der Erzengel Gabriel, der himmlische Mittler göttlicher Gnade, für ihn eintrat. Als hätte sie die Einwände des Wächters gar nicht gehört, hielt sie den Blick unverwandt auf Peter gerichtet und

Weitere Kostenlose Bücher