Der Wachsmann
forderte: »Und gebt diesen jungen Mann frei! Ihm gebührt vielmehr Dank, da er einen Dienst der Nächstenliebe getan hat.«
Jetzt wurde es dem bulligen Torhüter zuviel. Wie konnte es dieses Weib wagen, sich so über ihn hinwegzusetzen und seine Autorität bei den Gaffern und seinem Amtsbruder zu untergraben. Puterrot im Gesicht brüllte er: »Was bildet Ihr Euch ein, wer Ihr seid? Die Herzogin persönlich? Spaziert hier herein und gibt mir Befehle. Packt Euch meinetwegen fort mit dem Kadaver, bevor ich’s mir anders überlege, und verscharrt ihn vor diesen Mauern. Aber dieser Bursche hier«, sein Arm zeigte drohend auf Peter, »und sein kleiner Schlauberger, die wandern in den Turm. Mit denen bin ich noch nicht fertig!«
Der dürre Scherge, der sich nun der Unterstützung seines Vorgesetzten wieder sicher glaubte, grinste gehässig und packte Peter und Perchtold vorsichtshalber schon am Kragen.
Mit der Ruhe einer Löwenmutter, die ihrer trotzigen Brut mit Sanftmut und Entschlossenheit entgegentritt, fragte Lies den Bulligen zurück:
»Wißt Ihr etwa nicht mehr, wer ich bin?«
Die Frage stürzte den Wächter vollends in Verwirrung. »Wieso? Euch kennt doch jeder hier. Haltet Ihr mich für einen Narren?«
Ohne die Frage berechtigterweise zu bejahen, erkundigte sich Lies liebenswürdig: »Wie geht es Eurer Frau, Arnold? Müßte nicht in diesen Tagen ihre Niederkunft sein? Ihr scheut Euch doch nicht, mich rufen zu lassen, wenn die Wehen einsetzen?«
»Das, das hat nichts mit dieser Sache hier zu tun.«
»Vielleicht kommt Ihr dieser Tage einmal vorbei«, fuhr Lies ungerührt fort, »damit ich Euch das Amulett mit dem Aetit geben kann, der das Würmchen sicher herauszieht.«
»Ich pfeif’ auf Euren Ae… ja, Euren Hokuspokus, mit dem Ihr die Leute verrückt macht. Verschwindet jetzt!«
»Oh, ich nehm’s Euch nicht übel, wenn Ihr meiner Hilfe nicht bedürft. Doch glaubt Ihr, daß Eure Frau genauso denkt?«
»Meine… was hat das mit meiner Frau… verflucht, schert Euch zum Teufel, alle!« Arnolds Frau war ebenso fromm wie abergläubisch. Und sie hatte bei allen drei bisherigen Geburten auf die Hilfe von Lies vertraut. War Arnold bullig und in Raserei einem wild gewordenen Ochsen vergleichbar, so hatte sein Weib Umfang und Kraft eines Gespanns, und ihr Zorn glich der Wucht eines Erdbebens. Dies erklärte, warum der Wächter bei jeglicher Widerrede einer Frau zunächst zwar wütend wurde, bei drohender Verärgerung seines eigenen liebreizenden Weibes aber klein beigab.
Lies, Peter, und Perchtold begaben sich hinaus und durch die zurückweichende Menge zum Wagen. Weder der dürre Scherge noch einer aus der Menge hielten die drei zurück, als Peter Hilde am Zaumzeug packte und das Gespann in Bewegung setzte. Ungeachtet der Forderung des Wächters, die Leiche außerhalb der Mauern zu verscharren, hielten sie schweigend auf die Pfarrkirche zu.
Die Nachricht von der geheimnisvollen Leiche hatte sich mit Windeseile im Ort verbreitet. Doch während sich anfangs nur sensationslüsterne Gaffer am Tor eingefunden hatten, sorgte jetzt das Gerücht, daß der Tote Jakob Krinner sei, für echte Bestürzung. Jedermann hatte den Jakob als rechtschaffenen und zumeist fröhlichen Floßmann gekannt. Und beinahe jede Frau im Dorf hatte sich zu irgendeiner Zeit schon der Hilfe von Lies bedient. Denn sie hatte die Fähigkeiten ihrer Mutter geerbt, kannte Kräuter und Kräfte der Natur, verstand sich auf Heilmittel, Salben und Tränke und übte die Hebammenkunst aus. So waren es jetzt auch hauptsächlich Frauen, die ihre Arbeit liegen ließen, wo immer es möglich war, und in ehrlicher Anteilnahme zur Kirche strömten, um Lies ihr Beileid zu bekunden und ihre Hilfe anzubieten.
Bei der Kirche angekommen, hob Peter mit Hilfe eines kräftigen Burschen die Kiste vom Wagen, trug sie mit Einverständnis des Pfarrers hinein und stellte sie auf dem kühlen Steinboden des Seitenschiffes ab. Einen Augenblick lang spielte er mit dem Gedanken, Lies zurückzuhalten, ihr den Anblick zu ersparen. Doch gleich darauf kam ihm das Ansinnen lächerlich vor, und die Witwe trat auch schon entschlossen vor den ärmlichen Sarg. Peter wich respektvoll zurück, konnte jedoch kaum den Blick von Lies abwenden. Er hatte noch keine Träne bei ihr gesehen, noch keine Klage gehört. Sie schaute lange wie versteinert auf den Leichnam hinab. Dabei schien es zwischendurch so, als lächle sie. Es war, als hielte sie Zwiesprache mit dem reglosen Körper, der
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