Der Waechter
Empfinden. Sie hatte immer gehofft, dass es eine Übermacht gäbe, die im Zweifelsfalle einschritt, die sie schützte und führte. Nun hatte sie verstanden, dass es eine Art Übermacht gab, die aber mit dem was Jenny als Macht bekannt war, überhaupt nichts am Hut hatte. Doch auch das konnte so nicht ganz richtig sein. Warum sollten die Gesandten sie sonst zu Arthur geführt haben, als dem das Aus drohte? Jenny ahnte: Es gab Dinge, die ihr immer ein Rätsel bleiben würden.
«Nun wissen wir, weshalb eine weitere Aktivierung stattgefunden hat. Wir waren schon gespannt.» Benedict zwinkerte ihr zu.
«Wir werden uns noch näher darüber unterhalten müssen. Damit wir wissen, womit wir es genau zu tun haben und wie wir es am besten nutzen können.»
Manchmal konnte Samuels Sachlichkeit ein wahrer Trost sein.
«Zur Abwechslung wird es mal wieder Zeit für eine außerordentliche Ratssitzung», sagte Ruth. «Gleich morgen.»
Jenny war überrascht. «Wie kann der Rat so schnell hier sein? Aus Argentinien, aus Schweden, aus Indien?»
«Aber meine Liebe, sie waren nicht weg. Wir brauchen sie doch! Sie sind bei anderen Bundmitgliedern und Freunden des Bundes untergekommen, bis die Sache hier ausgestanden ist.» Ruth lächelte ihr zu.
«Bei all den außerordentlichen Ratssitzungen, habt ihr dann auch noch ganz reguläre?», fragte Jenny und nach einer kurzen Pause setzte dröhnendes Gelächter ein.
24. Kapitel
Jenny ist warm. Kein Lüftchen weht. Sie ist aufgeregt. Sie stürzt auf Konrad zu. Er hält ihre Hände. Sie stehen sich gegenüber. Auf einem großen Platz? Alleine! Nein, doch nicht alleine! Sie schauen sich vertrauensvoll an, seine hellen Augen glitzern wie kleine Seen im Mondlicht. Seine Blicke dringen in sie ein. Er sieht, was sie sieht, weiß, was sie weiß. Sie sind eins. Sie spürt seine Anspannung genauso wie er ihre. Angst umgibt sie. Sein Anblick ist ihr ein Trost. Sie erwarten das Schlimmste. Sie wissen, dass es zu spät ist, um zu fliehen. Der Moment ist gekommen. Der Moment, von dem sie nicht wissen, wie er enden wird. Dunkle Wolken ziehen auf, nehmen ihnen das Licht.
Atemlos schreckte Jenny auf. Konrad eilte zu ihr an den Bettrand.
«Und?», fragte er.
Jenny schüttelte den Kopf. «Der gleiche Traum. Von uns beiden. Ich kann nicht sehen, wo wir sind. Ein Platz. Irgendwas Großes, ohne Bäume. Es ist hell. Und warm. Ich kann mich einfach nicht umschauen. Ich bin zu aufgeregt.» Jenny keuchte angestrengt.
Konrad strich ihr übers Haar und zog schließlich ihren Kopf an seine Brust. «Ist in Ordnung, mein Schatz.»
Es tat so gut, ihn bei sich zu haben. Sie wollte ihn neben sich ins Bett ziehen, aber er schüttelte vernünftig den Kopf.
«Ich muss die Stellung halten.»
«Nur hinlegen», flehte sie.
Es fiel ihm schwer, das konnte sie merken. Dennoch schüttelte er erneut den Kopf.
«Das wäre schon Ablenkung genug», flüsterte er ihr ins Ohr.
Dann ging er zurück zum Sessel, nicht ohne vorher noch einmal kontrollierend aus dem Fenster zu schauen.
Die Entscheidungen des Rates waren eindeutig. Sie durften keine Zeit mehr damit verschwenden, Jennys Kampffähigkeiten zu trainieren. Sie mussten ihre ganz speziellen Fähigkeiten fördern: Sehen und für Stillstand sorgen. Alles andere hatte Zeit zu reifen. Wenn es Jenny möglich wurde, den Stillstand eine Weile aufrechtzuerhalten und sich selbst daraus zu lockern , würde sie immer genügend Zeit haben, um zu fliehen oder sich mental auf einen Kampf vorzubereiten. Blieb nur die Frage, ob die Dunklen ihr noch genügend Zeit gaben.
Ein großes Problem war, dass Jenny nicht für einige Zeit beim Bund einziehen und sich dem Training widmen konnte. Sie musste ihr ganz normales Dasein mit der Familie aufrechterhalten, denn die oberste Regel besagte, dass sie sich keinem Menschen, auch nicht ihrer Familie gegenüber, als Animus offenbaren durfte. Es brach ihr das Herz. Jenny musste jede Nacht zu Hause und den Vormittag in der Schule verbringen. Alle wussten, dass die Dunklen jede Sekunde zum Angriff übergehen konnten.
«Wir müssen damit rechnen, dass sie sich alle verbünden. Die Einzelgänger, die kleinen Sauger. Sie alle haben Interesse daran, unsere Übermacht zu verhindern. Ganz egal, ob sie sonst eigene Wege gehen. Jetzt sind sie eins.» Benedict wirkte angespannt.
Alle taten das. Ganz zu schweigen von Jenny, die im äußersten Fall um ihr Leben fürchten musste. Selbst wenn sie neben ihrem Animusfragment eine einfache Beseelung besaß,
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