Der Wächter
einen zweiten Geist gesehen zu haben, dann war man bestenfalls ein Spinner, dessen Aussagen nur mit einem guten Kräuterschnaps zu genießen waren.
»Der Killer, der Reynerd erledigt hat, war ein Gangster, der sich Hector X nannte«, sagte Hazard. »Sein echter Name ist Calvin Roosevelt. Er ist ein hohes Tier bei den Crips, also hat sein Komplize wahrscheinlich einen Wagen gefahren, den sich die beiden erst kurz vorher unter den
Nagel gerissen haben.«
»Das wäre anzunehmen«, sagte Ethan.
»Aber der Mercedes, den sie benutzt haben, ist von niemandem als gestohlen gemeldet worden. Ich hab das Nummernschild erkannt, und du wirst nicht für möglich halten, wem das Ding gehört.«
Hazard löste den Blick von seinen gefalteten Händen und schaute Ethan in die Augen.
Obwohl Ethan nicht ahnte, was ihn erwartete, wusste er doch, dass es nichts Gutes war. »Wem?«
»Deinem alten Schulfreund, dem berüchtigten Dunny Whistler.«
Ethan sah nicht beiseite. Er wagte es nicht. »Du weißt, was ihm vor ein paar Monaten zugestoßen ist.«
»Irgendwelche Typen wollten ihn in einer Kloschüssel ersäufen, aber er war nicht ganz tot.«
»Ja. Und einige Tage später hat mich sein Anwalt angerufen und mir mitgeteilt, dass Dunny mich zum Testamentsvollstrecker bestimmt hat. Außerdem habe er eine Patientenverfügung hinterlassen, nach der ich das Recht hätte, über seine medizinische Behandlung zu entscheiden.«
»Davon hast du mir nie erzählt.«
»Hab keinen Grund dafür gesehen. Du weißt ja, wer er war und wieso ich nichts mehr mit ihm zu tun haben wollte. Trotzdem habe ich die Verpflichtung übernommen, weil … wie soll ich sagen … weil er mir früher, als wir Kinder waren, wirklich wichtig war.«
Hazard nickte. Er zog eine Rolle harter Karamellbonbons aus der Jackentasche, schälte die Verpackung ab und bot Ethan einen an.
Ethan schüttelte den Kopf. »Heute Morgen ist Dunny im Krankenhaus gestorben.«
Hazard löste einen Bonbon von der Rolle und steckte ihn sich in den Mund.
»Man findet seine Leiche nicht mehr«, sagte Ethan, weil er plötzlich spürte, dass Hazard das schon alles wusste.
Statt etwas zu erwidern, faltete Hazard das lose Ende der Hülle sorgfältig über die frei liegenden Bonbons.
»Sie schwören Stein und Bein, dass er tot war«, fuhr Ethan fort, »aber so, wie das Gartenzimmer im Krankenhaus gebaut ist, kann er nur mit den eigenen Beinen da rausgekommen sein.«
Hazard steckte die Rolle wieder in die Jackentasche. Während er an dem Bonbon lutschte, schob er es im Mund herum.
»Ich bin mir sicher, dass er noch am Leben ist«, sagte Ethan.
Endlich sah Hazard ihm wieder in die Augen. »Das alles ist geschehen, bevor wir zusammen beim Mittagessen waren.«
»Stimmt. Aber hör mal, Mann, ich hab’s einfach nicht erwähnt, weil ich nicht auf den Gedanken gekommen bin, dass Dunny irgendwas mit Reynerd zu tun hatte. Wie, ist mir noch immer schleierhaft. Oder hast du eine Ahnung?«
»Dafür, dass dir das alles durch den Kopf gegangen ist, warst du beim Essen aber ganz schön cool.«
»Ich hab gedacht, ich halt es kaum mehr aus, aber ich hab mir nicht vorstellen können, dass du mir eher hilfst, wenn ich dir rundweg sage, dass ich am Überschnappen bin.«
»Aha. Und was ist nach dem Mittagessen passiert?«
Ethan berichtete von seinem Besuch in Dunnys Wohnung. Das Einzige, was er ausließ, war die seltsame, verschwommene Gestalt im beschlagenen Badezimmerspiegel.
»Wieso hatte er eigentlich ein Foto von Hannah auf dem Schreibtisch?«, fragte Hazard.
»Er ist nie darüber hinweggekommen, dass er sie verloren hat. Bis heute nicht. Deshalb hat er das Foto wohl aus dem Rahmen gerissen und mitgenommen.«
»Na schön. Er fährt also in seinem Mercedes aus der Garage …«
»Ich nehme an, dass er es war. Den Fahrer habe ich nicht erkennen können.«
»Und was dann?«
»Das habe ich mir in diesem Augenblick auch überlegt. Dann bin ich zu Hannahs Grab gefahren.«
»Wieso?«
»So ein Gefühl im Bauch. Ich hab gespürt, dass ich da vielleicht etwas finden kann.«
»Und was hast du gefunden?«
»Rosen.« Ethan erzählte von den zwei Dutzend langstieligen Rosen und seinem anschließenden Besuch im Blumenladen. »Die Verkäuferin hat Dunny so genau beschrieben, als würde sie ihn seit Jahren kennen. Da war ich mir vollends sicher, dass er am Leben ist.«
»Was hat er damit gemeint, als er der guten Frau erzählt hat, du würdest denken, er sei tot – und hättest Recht damit?«
»Keine
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