Der Wächter
Wieder Hannah.
»Das Montagskind ist von wonniger Art …«
Ethan hielt den Atem an. Er rutschte vor bis an die
Stuhlkante. »Das Dienstagskind ganz lieb und zart …«
Das kannte er. Ein Kinderreim. Den dritten Vers formte er mit den Lippen, während er ihn hörte.
»Das Mittwochskind ist voller Leid … «
Das Kekskätzchen war mit Scrabble-Steinchen gefüllt, mit denen man vierzigmal LEID buchstabieren konnte.
Ein Kätzchen war eine junge Katze. Ein Kätzchen war ein Kind – wie Fric.
Wieso vierzigmal? Vielleicht war das ohne Belang. Vierzig Steinchen mit jedem der vier Buchstaben, insgesamt einhundertsechzig, waren nötig gewesen, um die Dose voll zu bekommen. Das Mittwochskind war voller Leid.
Anruf 53. Hannah.
Obwohl das Rauschen herausgefiltert und die Sprache verstärkt war, blieb die Botschaft unverständlich. Vielleicht war der Strom zwischen Leben und Tod im Augenblick der Aufzeichnung so breit geworden, dass die Ufer so weit wie die eines Ozeans auseinander lagen.
Anruf 52. Ebenfalls undeutlich.
Anruf 51. Hannahs Stimme mit einem anderen Kindervers.
» Maikäfer flieg , dein Vater ist im Krieg … «
Ethan sprang auf. Der Stuhl fiel um.
» Deine Mutter ist in Pommerland , Pommerland ist abgebrannt … «
Channing Manheim kam erst am Nachmittag des 24. Dezember nach Hause. Bisher hatte Ethan mit der Hypothese gearbeitet, dass sich sein Boss bis zu diesem Tag nicht in Gefahr befand, falls überhaupt.
Vielleicht war Manheim gar nicht in Gefahr. Vielleicht war das eigentliche Ziel immer schon Fric gewesen.
Zweiundzwanzig Maikäfer in einem Schraubglas. Wieso nicht dreiundzwanzig oder vierundzwanzig? Im Gegensatz zu der Keksdose war das Glas kaum halb voll gewesen. Warum hatte der Absender nicht fünfzig Käfer hineingepackt, um es bis zum Rand zu füllen?
Heute war Dienstag, der 22. Dezember.
87
Als Corky von der Mitte der Sitzbank auf die Backbordseite der Gondel rutschte, sagte Trotter: »Sachte, sachte!«
Die plötzliche Verlagerung von Corkys siebenundsiebzig Kilo konnte dazu führen, dass das Miniaturluftschiff ins Schaukeln, wenn nicht gar ins Schwanken kam. So nah über dem Dach durften sie das nicht riskieren.
Während Corky sich langsam und vorsichtig aufs Dollbord legte und ein Bein aus der Gondel hängen ließ, rutschte Trotter auf seiner Bank nach Steuerbord, um seinen Körper als Gegengewicht einzusetzen. Gleichzeitig bemühte er sich, das Fahrzeug mit den Rudern zu stabilisieren.
Das Luftschiff schwankte, aber nicht gefährlich.
Auf ein Zeichen Trotters hin schwang Corky sich ganz aus der Gondel, ohne sie jedoch sofort loszulassen. Zuerst hielt er sich mit beiden Händen am Dollbord fest, während der Pilot die zusätzliche Gewichtsverlagerung ausglich.
Als die Gondel sich beruhigt hatte, verlagerte Corky erst die rechte, dann die linke Hand vom Dollbord zur Halterung des seitlichen Ballasttanks. Das Metall war kalt und nass, doch mit seinen Handschuhen aus Leder und Nylon fand er gut Halt.
Er spähte nach unten und sah, dass er mit den Füßen noch etwa einen halben Meter vom Dach entfernt war.
So weit wollte er sich nicht fallen lassen. Zwar würde er sich wahrscheinlich im Gleichgewicht halten können, aber wenn er mit zu viel Lärm landete, wurden die beiden Wachmänner, die in ihrem Büro im Obergeschoss des Gärtnerhauses saßen, bestimmt auf ihn aufmerksam.
Offenbar hatte Trotter das Problem erkannt. Er ließ einen Hauch Helium entweichen, worauf die Gondel herabsank, bis Corky das Dach mit den Füßen ertastete.
Direkt über dem First, einen Fuß auf der südlichen und einen auf der nördlichen Dachseite, ließ Corky die Halterung los. Er war fast so weich gelandet wie Peter Pan.
Vom Ballast befreit, schoss das Luftschiff sofort vier, fünf Meter in die Höhe. Dort begann sich der Schwanz zu heben, was gar nicht gut war, aber mit einer raschen Ruderbewegung hob Trotter auch das andere Ende des Ballons an und stellte das Gleichgewicht wieder her, während er das Fahrzeug wendete. Zum Startplatz würde er allein zurückkehren.
Wenn Corky sein Opfer in Händen hatte, wollte er den Palazzo Rospo stilvoll verlassen – mit einem der Autos aus Manheims erstklassiger Sammlung.
An der Ruine des Châteaus angelangt, brauchte Trotter nur noch zu warten, bis die drei Halteseile an den Bäumen und am Lastwagen befestigt waren. Dann sollte er die beiden Männer, die als Bodencrew dienten, abknallen. Sein Luftschiff preiszugeben brach ihm bestimmt fast das Herz, aber
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