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Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition)

Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition)

Titel: Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bruno Preisendörfer
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18. Umso mehr, als überhaupt erst einmal eine Norm durchgesetzt werden musste, und zwar wortwörtlich beim Setzen der Bücher, bevor man sich daranmachen konnte, über Reformen zu schreiben. Seume benannte das Problem in seinem Brief an Klopstock:
»Da fast jeder Verfasser leider noch etwas eigenes in seiner Orthographie und Grammatik hat und kein Nationaltribunal ist, so geht die endliche Korrektheit der Sprache nur sehr langsam von Statten.«
    Da es die normierende Zentralinstanz nicht gab – und wo hätte dieses »Nationaltribunal« im zersplitterten Deutschland auch tagen können –, wurden hitzige publizistische Scharmützel um die Sprachregeln geführt. Viel Blut wurde in Wallung gebracht, viel Tinte vergossen:
     
Es gab die veröffentlichte Meinung, dass das Ypsilon zu retten und das h theilweise zu bewahren sey. Trotzdem wurde das y in den Hilfsverben zum i gestutzt und das h hinter dem t hervorgezogen und aus den Vokabeln geworfen.
Es gab Traktate, in denen gefordert wurde, die Worte zu schreiben als wären sie gesprochen. Dabei redeten in jedem Kirchspiel die Leute verschieden wie ihnen der Schnabel gewachsen war – wie hätte sich auf diese Weise ein einheitliches Schriftbild entwickeln sollen?
Und es gab eine orthographische Konkurrenz, die zugleich eine wirtschaftliche war, weil sie mit Wörterbüchern ausgetragen wurde, deren Herstellung die Verleger teuer zu stehen kam, und die sich in der Wissenschaft und am Markt gleichermaßen bewähren mussten.
    Das wichtigste und erfolgreichste dieser Wörterbücher war Adelungs Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart , zuerst in fünf Bänden von 1774 bis 1786 und in zweiter Auflage vierbändig von 1793 bis 1801 erschienen, beide Male in Leipzig. Dieses Werk hat Seume benutzt. Hinter den breiten Bücherrücken konnte sich der Korrektor verschanzen, um den Texten die orthographischen Flausen ihrer Verfasser auszutreiben.
    Doch nicht immer standen vergebliche Korrektorenmühe und barscher Autorenunmut einander gegenüber. Manchmal übermittelte der Verleger auch Komplimente und lockte etwas Freude aufs Angesicht des Handlangers und Buchstabenrückers. Es muss Balsam für Seumes geschundene Korrektorenseele gewesen sein, als einer der Korrigierten für die Korrekturen ausdrücklich dankte und dabei nicht vergaß, neben dem Korrektor auch den Dichter zu loben. Valerius Wilhelm Neubeck, Verfasser des Langgedichts Die Gesundbrunnen , schrieb im Dezember 1797 an Göschen: »Dass fachkundige Männer mein Gedicht der strengsten Untersuchung und Musterung würdigen, ist meinem Eifer für die Kunst höchst willkommen. Bringen Sie daher dem geistvollen Verfasser der Obolen meinen besten Dank nicht allein für die Würdigung des Wesentlichen meiner Arbeit selbst, sondern auch für die mit Freundlichkeit gegebenen Erinnerungen [Verbesserungsvorschläge] u. Sprachbemerkungen, welche ich zu benutzen gesucht habe.«
    Allerdings war Neubeck kein literarischer Profi, sondern ein gelegenheitspoetischer Arzt, sympathisch bescheiden in seinem »Eifer für die Kunst«. Wo das fehlende Lob eines Großen kränkt, muss das eines Kleinen keineswegs gefallen. Dem Korrektor Seume mochte das eine fehlen und das andere nicht genug sein, der Schriftsteller Seume hatte sich vom einen wie vom anderen unabhängig zu machen. Keiner literarischen Gruppe angehörend, keiner ästhetischen Strömung ausdrücklich verpflichtet, schrieb und publizierte Seume als Solitair – oder als Einzelkämpfer, wenn das andere Wort bei einem wie ihm zu pathetisch klingt.
    In solcher Situation ist es schwer, in der Einschätzung des eigenen literarischen Rangs nicht schwankend zu sein. Doch spricht es für Seumes schriftstellerische Zähigkeit, dass er, beschützt von Selbstironie, seine lyrische »Erbsünde« pflegte und bis zum Lebensende nicht aufhörte, mit der Feder übers Papier zu kratzen, um Erlebnisse, Empfindungen und Gedanken niederzuschreiben.
    Es war nicht nur eine Frage des persönlichen Charakters, sondern auch der literarischen Selbsterhaltung, das Festlegen auf eine Rolle zu vermeiden, von der persona des Wahrheitssuchers abgesehen, dieser authentischen Maske, mit der der Mann längst verwachsen war.
    Das Geld wirkte dabei störend – wenn es fehlte, aber auch, wenn es vorhanden war. So ließ er während der Zeit in Göschens Verlag den Lohn von Freund Schnorr verwalten. Das Verlangen nach Ruhm, der für ihn stets nur ein falscher sein konnte, suchte er aus der Seele

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