Der wahre Feind: Kriminalroman (German Edition)

da nur ein Protokoll ein. Das ist keine Vereinigung, sondern ein Buch, besser gesagt, ein ziemlich altes Manifest.« Niels trank einen Schluck aus seiner Magnumflasche Cola.
    » Erzähl!«, sagte Storm.
    » Der Text ist so um 1900 entstanden und enthält dreiundzwanzig Kapitel, in denen ausführlich beschrieben wird, wie man angeblich die Weltherrschaft erlangt.«
    » Und wie macht man das?«, fragte Storm.
    » Indem man Reichtümer anhäuft und Grundstücke aufkauft, Politiker besticht und das eigene Volk instrumentalisiert, indem man Attentate auf seine Gegner verübt und die Bevölkerung mit Unterhaltung betäubt. Es ist eine Art Gebrauchsanweisung für zukünftige Diktatoren.«
    » Hört sich ja ziemlich umfassend an. Wer hat das geschrieben?«
    Niels lächelte und war offenbar ganz in seinem Element. » Darüber bestehen geteilte Meinungen. Manche behaupten, der Text stamme von einem jüdischen Geheimbund im alten Russland. Es sei an spätere Mitglieder weitergegeben worden, die es als eine Art Drehbuch benutzt hätten, um Macht in der Gesellschaft zu erlangen. Es heißt ja, die Russische Revolution sei von jüdischen Bolschewiken begonnen worden. Leute, die sich zu diesem Protokoll bekannten.«
    Katrine warf ihm einen verwunderten Blick zu. » Warum in aller Welt sollte Løvengren Mitglied eines jüdischen Geheimbunds sein? Der Mann ist durch und durch ein dänischer Nationalist.«
    » Sprecht ihr etwa vom Protokoll der Weisen von Zion?«, fragte Claus, der ihrem Gespräch gelauscht hatte. Er stieß sich mit den Händen so stark von der Tischkante ab, dass er auf seinem Stuhl quer durch den Raum rollte. » Dann kann von einem jüdischen Geheimbund keine Rede sein. Das Protokoll ist gefälscht, das weiß jeder seriöse Verschwörungstheoretiker.« Er warf Niels einen vielsagenden Blick zu. » Es stammte von der Ochrana, der Geheimpolizei des russischen Zaren. Das war ein Versuch, den Antisemitismus zu schüren und die Revolution in Russland zu verhindern. Die kleine von 1905.«
    » Darauf wollte ich ja gerade zu sprechen kommen«, entgegnete Niels pikiert. » In Wahrheit hat nämlich die Ochrana den Text weitgehend von einer französischen Satire übernommen. In dieser Satire geht es um ein Gespräch zwischen Machiavelli und Montesquieu, das die beiden in der Hölle führen.«
    » Ihr meint also beide, dass es sich bei diesem Protokoll nur um ein Gedankenspiel handelt?«, fragte Storm.
    » Richtig, aber um ein sehr gefährliches«, antwortete Niels. » Das Protokoll beziehungsweise sein Mythos existiert schon ewig und ist auch in verschiedenen gefälschten Ausgaben immer wieder veröffentlicht worden. Nach der Russischen Revolution ist zum Beispiel in den USA eine Neuinterpretation erschienen, die bei uns als Manifest einer geheimen anarchistischen Organisation gedeutet wurde.«
    » Während in Nazideutschland natürlich eine jüdische Ausgabe existierte«, fuhr Claus fort. » Und in der Sowjetunion soll es natürlich eine kapitalistische Organisation gewesen sein, die den subversiven Text produziert haben soll. In mehreren muslimischen Ländern wird das Protokoll noch heute als Beweis einer jüdischen Weltverschwörung angesehen.«
    » Historisch betrachtet wurde das Protokoll also vor allem von totalitären Systemen ins Spiel gebracht, um einen Sündenbock zu benennen und die eigene Macht zu konsolidieren«, sagte Niels.
    Katrine schaute zwischen Claus und Niels hin und her. » Ist das hier Basiswissen von Nerds?«
    Niels zuckte nonchalant die Schultern. » Ist ja bloß eine der ältesten Verschwörungstheorien der Welt.«
    Claus nickte. » Sozusagen die Mutter aller Konspirationstheorien. Größer als die Ermordung von JFK , die Mondlandung und der Angriff auf das World Trade Center zusammen.«
    » Was ist mit Dänemark?«
    Niels schüttelte den Kopf. » Bis jetzt hat noch niemand behauptet, dass es hier subversive Kräfte gibt, die die Macht an sich reißen wollen.«
    » Keine geheimen Logen?«, fragte Katrine.
    » Logen gibt es schon, aber die haben wir alle registriert. Die größte und geheimste ist die der Freimaurer am Blegdamsvej, aber die ist ja ziemlich friedlich.«
    Storm nickte und schien erleichtert zu sein. » Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass mein Vater an so etwas beteiligt sein sollte.«
    Niels warf ihm einen Seitenblick zu. » Aber wer das Protokoll ernst nimmt, der muss die führenden Mitglieder unserer Gesellschaft für die eigenen Zwecke instrumentalisieren. Und das würde deinen