Der wahre Hannibal Lecter
schwierig, das Opfer überhaupt zu identifizieren, denn der Mann hatte keinerlei Papiere bei sich.
Erst bei einer groß angelegten Suchaktion fanden wir eine Geldbörse mit einem Ausweis. Ansonsten war das Portemonnaie leer. Das Geld wurde sicher vom Täter entnommen«, lautet die ausweichende Antwort.
»Haben Sie andere Gegenstände gefunden, die auf den Täter schließen lassen?« Die Journalisten lassen nicht locker. Der Beamte unterstreicht seine Antwort mit einem hilflos wirkenden Kopfschütteln: »Nein, obwohl wir das gesamte Umfeld des Opfers durchleuchtet haben. Wie Sie wissen, war der Mann homosexuell, und Sie können sich vorstellen, wie schwierig es ist, in dieser Szene Informationen zu erhalten.
Wer will sich schon outen und zugeben, dass er diese Toilettenanlage für seine sexuellen Wünsche genutzt hat. Sie dürfen nicht vergessen, in diesen Bedürfnisanstalten finden Sie Menschen aller Schichten. Vom einfachen Arbeiter bis zum Großindustriellen, aber darüber möchte ich nicht sprechen.«
Dann fährt er fort: »Morde an Homosexuellen gibt es immer wieder. Aber so etwas Brutales habe ich während meiner langjährigen Arbeit bei der Polizei noch nie gesehen. Zwei Kollegen mussten sich beim Anblick des Opfers übergeben.
Hartgesottene Männer, seit Jahren an schreckliche Bilder gewöhnt. Doch was dieses Opfer erleiden musste, sprengt alle Grenzen. Es muss ein Wahnsinniger gewesen sein, der zu solchen Gräueltaten im Stande war.«
Die Suche nach dem Täter
Die Presse in England überschlägt sich in Superlativen und malt ihre Gewaltdarstellungen in den schrecklichsten Farben.
Zunächst dominiert Schwarz, weil man erst annahm, es mit einem satanistischen Ritual zu tun zu haben. Dann kommt Braun in Mode, aber auch der neofaschistische Hintergrund wird bald wieder verworfen. Was übrig bleibt, ist die Farbe des Blutes: Rot.
Scotland Yard beschließt, eine Sondereinheit aus Spezialisten der Mordkommission zu gründen. Die Zeit drängt.
Presse und Öffentlichkeit sitzen den Beamten im Nacken.
Tausende von Überstunden werden gemacht. Ebenso viele Hinweise gehen ein. Trotz ständiger Aufrufe an die Bewohner der Stadt, jede nur erdenkliche Beobachtung zu melden, kommen keine brauchbaren Hinweise, nur eine Flut von unbrauchbarem Unsinn. Auch die Spurensicherung findet nichts. Zu stark frequentiert sind die vermutlichen Tatorte, als dass dort Fingerabdrücke oder sonstige Beweismittel zu finden gewesen wären.
»Der Mörder hat sich den richtigen Tatort ausgesucht«, sagt einer der Ermittler. »Wo soll man hier auch anfangen mit der Suche nach brauchbaren Spuren? Tausende von Fingerabdrücken und unzählige Fußspuren finden sich in jeder dieser Toiletten.«
Immer wieder durchkämmen Dutzende von Polizisten die öffentlichen Bedürfnisanstalten. Aber das einschlägige Milieu ist längst auf andere Adressen ausgewichen. Die Polizei ist sich mittlerweile sicher, dass der Täter unter den Strichern zu suchen ist. Doch ein Homosexueller, so der zugezogene Psychologe, könne aus dem Kreis der Verdächtigen eigentlich ausgeschlossen werden. Noch nie ist in dieser Szene ein Mord mit einer derart massiven Gewalteinwirkung verübt worden.
Fieberhaft versucht man, an die Adressen der männlichen Prostituierten heranzukommen. Doch das Durchkämmen der stadtbekannten Clubs bringt keinen Erfolg. Die Polizei erfährt zwar die Adressen von Strichern, doch keiner dieser Männer kommt für die Tat in Frage.
Ein weiteres Problem kommt hinzu: Mit zunehmender Dauer der Ermittlungen wird das Erinnerungsvermögen der Zeugen immer schwächer, und die meisten Alibis verdächtiger Personen sind nicht mehr nachzuprüfen.
Einige Wochen später haben sich die Wogen, die der Fall in der Presse geschlagen hatte, wieder geglättet. Die Plätze um die öffentlichen Toiletten füllen sich allmählich wieder, was der Polizei nicht verborgen bleibt. Das Abschwellen der Medienhysterie kommt den ermittelnden Beamten zu Gute. Sie können jetzt zumindest in Ruhe arbeiten, dennoch werden die Ermittlungen von Tag zu Tag schwieriger. Informationen aus der Bevölkerung führen regelmäßig in die Irre, aus der homosexuellen Stricher- und Freier-Szene geht ebenfalls kein brauchbarer Hinweis ein. So entschließt man sich, trotz heftiger Proteste aus den eigenen Reihen, zu einer Großrazzia im Prostituiertenmilieu. Niemand, der sich auch nur im Dunstkreis der Szene befindet, ist fortan vor Überprüfungen der Sonderkommissionen sicher. Jede
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