Der wahre Hannibal Lecter
vorzugaukeln, um Zeit zu gewinnen und die angetroffene Situation besser überschauen zu können. Während sich der Hausherr in freudiger Erwartung besonders gründlich duscht durchsucht sein Gast meist alle Schränke nach Bargeld.
Wird er nicht fündig, ist der Verlauf der folgenden Dienst-leistung meist vorprogrammiert.
Wünscht der Kunde zum Beispiel Fesselspiele, ist für den Stricher sowieso alles gelaufen. Das Opfer wird ans Bett gefesselt, aber nicht etwa verwöhnt sondern gnadenlos ausgeraubt. Hilflos muss der Hausherr mit ansehen, wie man seine Habe durchstöbert, wie alles Verwertbare aus der Wohnung geschafft wird. Dabei dürfen sie sich noch glücklich schätzen, wenn ihnen wenigstens keine Gewalt angetan wird.
Wer es schafft, sich selbst aus der misslichen Lage zu befreien, ist so froh, heil davongekommen zu sein, dass er den Verlust des Eigentums darüber leicht verschmerzt. Der Gang zur Polizei kommt für die meisten dieser Männer nicht in Frage.
Was sollten sie dem Beamten denn auch sagen? Dass sie mit ihren sechzig Jahren einen 15-Jährigen oder einen noch jüngeren Buben mit nach Hause genommen haben? Sollen sie zu Protokoll geben, dass sie sich sicher waren, die große Liebe gefunden zu haben?
»Viele dieser meist sehr jungen Stricher sind nicht homosexuell, sondern, wie man so sagt, normal«, erfahren die Beamten in einem jener seltenen Fälle, wo sich ihnen jemand offenbart. »Sie wollen doch nur unser Geld. Wir träumen jedoch davon, dass wir einmal der wahren Liebe begegnen dürfen. Was ist daran so verwerflich? Die heterosexuellen Männer tun doch dasselbe. Die sind nicht nur in den Frauen-Bordellen, sondern sehr viele auch hier bei uns. Zu Hause den braven Ehemann spielen und sich nebenbei mit gekauften Männern und Frauen vergnügen. Ist das besser? Was habt ihr gegen uns?«
»Gar nichts«, antwortet ein junger Beamter. »Wir haben nur einen Mord aufzuklären. Es kann doch nicht in Ihrem Interesse sein, dass dieser Mann noch frei herumläuft. Dies alles geschieht doch auch zu Ihrer Sicherheit Denn dieser Mann wird wieder töten, davon sind wir überzeugt. Wollen Sie das nächste Opfer sein? Wir gehen davon aus, dass dieser Mann eine unglaubliche Aggression gegen Homosexuelle entwickelt hat. Wir sind auf Grund der Recherchen davon überzeugt, dass es zwischen Opfer und Täter keinerlei persönliche Verbindungen gab. Deshalb sind wir sicher, dass der Mörder in den Kreisen jener Leute zu suchen ist, die Sie als Stricher bezeichnen. Wir sind nicht hier, um eine Kartei der Besucher von öffentlichen Toiletten zu erarbeiten. Wir suchen einen Killer. Sonst nichts.«
»Dass wir Angst haben, können Sie sich sicher vorstellen«, erwidert einer der Befragten. »Wenn ihr diskret im Umgang mit unseren Namen seid, will euch im Prinzip jeder von uns helfen. Unsere Namen dürfen nur nicht an die große Glocke gehängt werden. Dafür haben Sie doch Verständnis, oder?
Viele von uns arbeiten in leitenden Positionen, was glauben Sie, was die Chefs dazu sagen würden, wenn Sie von unseren sexuellen Vorlieben erführen?«
Diese Worte beeindrucken die Beamten, und sie sehen endlich eine Perspektive für ihre Bemühungen. Bei den folgenden Gesprächen erfahren die Beamten einiges über den verdächtigen Personenkreis. Immer mehr Freier werden gesprächig, als die Beamten wiederholt beteuern, dass niemand Repressalien zu befürchten habe. Zum Glück. Denn die Beamten des Sonderdezernats von Scotland Yard sind mit ihrem Latein längst am Ende. Die grauenhaften Bilder des verstümmelten Opfers hängen weiter in ihren Büros, doch die ergebnislose Auswertung der Spurensicherung und den schockierenden Obduktionsbericht der Gerichtsmedizin können sie nur mehr resigniert zur Kenntnis nehmen. Ihre Ermittlungs-erfolge beschränken sich auf reine Verdächtigungen und unbrauchbare Hinweise. Es gibt keine einzige heiße Spur. Sie graben in der Vergangenheit jedes verurteilten Straftäters, der in Zusammenhang mit einem Mord gebracht werden konnte.
Vergeblich!
Von der Presse gedemütigt, sitzen die Ermittler und Fahnder in ihren Büros und hoffen nur auf eins: auf neue Erkenntnisse durch die Großrazzia der Polizei. Als sich die hinauszögern, versucht das Sonderdezernat zumindest das Täterprofil zu konkretisieren. Immer wieder fahren die Beamten zum Tatort.
Genau zu jener Uhrzeit, als der Mord geschah. Man will sich so gut als möglich in die Lage des Täters hineinversetzen.
Doch alle Bemühungen sind
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