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Der wahre Sohn

Der wahre Sohn

Titel: Der wahre Sohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olaf Kühl
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Heftigkeit. «Es ist doch Ihr Fleisch und Blut.»
    Sie schüttelte den Kopf.
    «Wie, etwa nicht?»
    Fernsehbilder von iranischen Frauen schossen Konrad durch den Kopf, die ihren zum Tode verurteilten Söhnen im Nachhinein die Menschenwürde absprechen, sich von ihnen lossagen. Mit versteinerten Gesichtern, niemand konnte ihnen ansehen, was sie wirklich empfanden.
    Und Konrad erinnerte sich an ein Erlebnis aus der Zeit, als er das Gebäude der Generalstaatsanwaltschaft der DDR bewachen musste. Aus den Fenstern des Vorderhauses ging der Blick auf die Luisenstraße, links blinkten die dunklen Wellen der Spree. Im zweiten Stock war er auf Ermittlungsakten zur Regierungskriminalität der DDR gestoßen, sie lagen unverschlossen in den Schränken. Anfangs hatte er aus purer Langeweile so einen Ordner aufgeschlagen, dann las er sich schnell fest und verbrachte die meiste Zeit in diesem Raum. Er musste nur aufpassen, die Akten rechtzeitig in den Schrank zurückzustellen, wenn das Auto der Kollegen draußen vorfuhr.
    In diesen Papieren befand sich der Brief einer Mutter, deren Junge mit achtzehn aus der Zone geflohen war. Vor dem Mauerbau, die Flucht war eine ungehinderte Bewegung im Raum gewesen. Per Anhalter war der Junge nach Südfrankreich gereist, weil er schon immer einmal das Mittelmeer hatte sehen wollen, dann war er nicht zurückgekehrt. Für diese Frau – die sich aufopferungsvoll für den Aufbau der DDR eingesetzt hatte und an den Sozialismus glaubte, das sah man an ihren Briefen – brach eine Welt zusammen. In größter Verzweiflung und mit riesigem Schuldgefühl flehte sie einen hohen Funktionär um Verständnis für ihr «ungehöriges Kind» an. Konrad war erschrocken darüber, wie unterwürfig sich diese Frau gegenüber den kleinkarierten Funktionären zeigte. Er saß am Fenster zur Luisenstraße und las im Licht der Gaslaternen, den Raum ließ er dunkel, um nicht aufzufallen. So beeindruckt war er von diesem Schreiben, dass er bald alles um sich herum vergaß.
    Am Morgen kam die Ablösung, ein älterer Kollege. Konrad wechselte ein paar Worte mit ihm und ging zur S-Bahn. Vom Bahnsteig Yorckstraße konnte er durch eine Baulücke, da fehlte ein ganzes Haus, seine Wohnung auf der anderen Seite der Mansteinstraße sehen. Hinter den Gleisen hing das Plakat, das am Abend zuvor Mücken und Eintagsfliegen umtanzt hatten: ein Bohlenhaus auf Holzstelzen im flachen Wasser eines Meeresstrandes, in seinem Inneren brannte warmes, vertrautes Licht. Jetzt in der Südsee sein, hatte er gestern geträumt: In dieser Hütte, unter der die Wellen plätschern, mit Freunden zu sitzen, statt im Nieselregen zu stehen, sich unter muffigen, niesenden S-Bahn-Passagieren zum Gerichtsgebäude zu quälen und dort die Nacht totzuschlagen.
    Nun, im Morgenlicht, sah er genauer hin und las unter dem Foto die Worte «Eine von uns». Was sollte das heißen? Eine von wem? Er konnte sich beim besten Willen nicht als Teil einer ominösen Gemeinschaft wie «uns» fühlen, dann begriff er, dass das gar nicht die Südsee, sondern die baltische, die Ostsee war. Und das Bild obendrein eine Zigarettenwerbung. DDR -Propaganda in kapitalistischer Verkleidung! Oder umgekehrt. Verfluchte Lügner! Meinten sie vielleicht den FDJ -Urlaub? Kramten sie hier die Gemütlichkeit der engen Familie DDR wieder hervor, um Zigarettenwerbung zu machen? Die kleine Heimat! Sie vermischten die Nostalgie nach der warmen, trauten Familie DDR mit der Sehnsucht nach der großen Ferne. Rührten zwei Sehnsüchte zusammen.
    Es empörte ihn so, dass er, statt nach Hause zu gehen, die nächste Bahn abwartete und nach Steglitz weiterfuhr, in der Schlossstraße Brötchen kaufte und zu Marlene ging. Leise schloss er die Wohnungstür auf und legte sich zu ihr ins warme Bett.
    «Hast du das Plakat gesehen, mit den Cabinet-Zigaretten?»
    «Nein.»
    Er wusste, dass sie sofort wieder Partei für die gescheiterte sozialistische Utopie ergreifen würde: Der Versuch habe ja auch seine guten Seiten gehabt. Arbeit. Wohnungen. Kindergärten. Früher war sie wild gewesen, auch grausam unlogisch, heute hielt sie sich diese erstickende Art von Gerechtigkeit wie einen Lappen vor den Mund. Nichts an ihrem Leben war mehr rebellisch, sie war in sich zusammengesunken wie eine verwelkte Lilie. Man musste den Reizstrom solcher Themen an ihren Stängel legen, damit die schlaffen weißen Blätter noch einmal zuckten. Er widersprach nicht zu heftig, er brauchte die Nähe ihres Körpers, sein Gesicht ruhte

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