Der wahre Sohn
Erleichtert stieß Konrad bald auf eine Stelle, die ihn wieder mit Arkadij versöhnte. Olha brät Fisch, Olha hat Butter auf dem Markt bekommen, Olha ist eine Künstlerin. Konrad nahm die vier Seiten aus dem Hefter, legte die Beine auf den Tisch und las das Tagesprotokoll von Anfang an.
«Bei unserer letzten Sitzung haben Sie etwas von einem Tag am Dnjepr erwähnt, mit Ihrem Vater zusammen.»
«Ich kann mich nicht erinnern.»
«Darf ich Ihnen helfen? Das war, als Sie von der Milchglasfensterscheibe erzählten. Wenn sie glatt war, sagten Sie, erinnerte sie Sie an die stille Wasserfläche des Dnjepr, an einem Sommertag mit ihrem Vater.»
«Ach so. An einem Sommertag im Juli 1939 oder 1940 . Am Sandufer der Insel. Flussabwärts am gegenüberliegenden Ufer Petschersk, die vergoldeten Klosterkuppeln im Sonnenlicht. Menschen am Strand, leichtbekleidete, gesunde Körper.»
«Da war noch kein Krieg.»
«Nein. Ich lag im Sand und hatte eine Badehose an. Neben mir saß Vater. Er trug nichts als helle Shorts. Sein Gesicht war von der Sonne braun, Oberkörper und Bauch waren so bleich wie ein Engerling, das fand ich sehr komisch. Er angelte. Wenn ich daran denke, kommt mir der Duft seines Rasierwassers in die Nase, vermischt mit einem Hauch von Schweiß. Dieser Duft gab mir Sicherheit. Und dann der Geruch des Fischköders, so ein knetbarer Teig in einer hellblauen, runden Blechdose.»
Arkadij wittert.
«Ja, und dann die Zigaretten. Vater hat ja geraucht. Seit Olha da war, hatte sein Duft sich verändert. Er benutzte ein anderes Rasierwasser. Er warf den Köder aus, saß auf einem Stein und rauchte.
‹Olha gefällt dir, stimmt’s?›, fragte er mich. Er verschonte mich mit seinem Blick, guckte geradeaus, auf die Pose, die draußen irgendwo schwamm.»
«Was haben Sie geantwortet?»
«Ich weiß nicht mehr. Wahrscheinlich nur was gedruckst. Aber an mein Gefühl erinnere ich mich noch ziemlich gut. Die Frage tat mir weh. Ich hatte Vater immer auf Anhieb verstanden. Diesmal machte mir etwas Fremdes an ihm Angst. Und ich schämte mich. Natürlich gefiel Olha mir, insgeheim liebte ich sie. Aber das wollte mein Vater gar nicht wissen. Wissen wollte er im Grunde gar nichts, er wollte mir selbst etwas mitteilen, ungefähr das: ‹Ich finde Olha auch attraktiv.› Er redete zu mir wie zu einem erwachsenen Mann. Er wollte uns beide als Angehörige des männlichen Geschlechts zusammenbringen und sagen: Kein Wunder, dass wir uns für Olha interessieren. Wir sind ja Männer.»
«Und das hat Ihnen nicht gefallen?»
«Ich wollte Olha nicht teilen, mit anderen Männern, die sie schmutzig machen könnten. Nicht mal mit meinem Vater. Für mich war Olha eine Heilige.»
«Was verstehen Sie denn unter schmutzig?»
«Schmutzig?»
«Ja. Sexualität zum Beispiel, ist das für Sie etwas Schmutziges?»
«Ja. Auch Vaters glitzernder Schaum, wenn er nachts ins Bad rannte. Manchmal stieß er dabei einen Schrei aus. Svetlana ging ihm nach. ‹Was machst du?› – ‹Ich bin tot!›, sagte Jurij. ‹Nein, bist du nicht›, sagte sie und strich ihm über den Rücken, als er am Klo stand. Die Spucke blieb auf dem Boden liegen, im Flur oder im Bad, und sank dann in sich zusammen. Niemand wischte das auf. Svetlana nicht, Olha auch nicht. Morgens war da nur noch diese flache, silbrigweiße Spur. Wie von einer Schnecke.»
«Hat Ihr Vater noch weiter nach Olha gefragt?»
«Nein. Vielleicht hat er gemerkt, wie unangenehm mir das war. Im Grunde war er sehr zart. Ich bilde mir vielleicht viel zu viel ein, womöglich wollte er einfach nur herauskriegen, wie sehr ich an ihr hing. Ob es sich lohnte, Svetlana davon zu überzeugen, dass sie bleiben durfte. Als er aus dem Krieg zurückkam, ist es dann wahr geworden. Vielleicht hat er da draußen im finnischen Schnee, in den Schützengräben, die ganze Zeit nur an sie gedacht. Damals war ich sechzehn, da hat er keine Rücksicht mehr auf mich genommen, vielleicht hat er mich da eher als Nebenbuhler gesehen. Vielleicht hatte er gerade deshalb keine Hemmungen mehr mit Olha.»
«Kam Olha zu solchen Ausflügen mit?»
«Natürlich nicht. Sie blieb zu Hause.»
«Und Svetlana ging nicht mit angeln?»
«Nein, Vater wollte den Tag mit mir allein verbringen. Und dann biss ein großer Fisch an, den er mit Mühe aus dem Wasser zog. Wie aufgeregt er war, auf seine beherrschte Weise! Ich wollte, dass mein Vater stark war und alle besiegen konnte! Ich bewunderte seine Männlichkeit. Er blieb immer ruhig, während
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