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Der wahre Sohn

Der wahre Sohn

Titel: Der wahre Sohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olaf Kühl
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sowieso nicht, dass Romantik und Verklärung typische weibliche Züge wären, bei einer über Achtzigjährigen erstaunte ihn diese fehlende Scheu aber dennoch.
    «Hatten Sie keine Angst, dass Arkadij Sie überrascht?», fragte Konrad verlegen.
    «Ehrlich gesagt», begann Svetlana, dann: «Das Fleisch! Das Fleisch!» Sie rannte in die Küche. «Sehen Sie, das kommt davon. Jetzt sind sie verbrannt.»
    Sie nahm die Kartoffeln vom Herd und goss sie ab, während er das Schwarze vom Fleisch schabte. Sie setzten sich an den Tisch.
    «Ich wollte, dass Olha es hört», sagte Svetlana wie beiläufig, während sie mit der Zunge ein Stück Schnitzel zwischen den Zähnen suchte. «Ich wusste, dass sie in ihrem Zimmer war.»
    Diese Frau war so zäh wie die Fleischfaser. Sie wäre fähig, aus Eifersucht zu töten. Konrad war unsicher, ob er nicht vielleicht phantasierte. Er hatte gerade jedes Gespür für sie verloren.
    «Es ist so gut, dass ich Ihnen das alles sagen kann», erklärte sie, als würde sie nach ihrer Beichte den Rock wieder herunterlassen. «Sie können zuhören. Sie glauben nicht, wie gut mir das tut.»
    «Dazu bin ich ja hier», sagte er, gedankenleer von seiner inneren Starre.
     
    In der Klinik erinnerte sich Konrad an eine Episode, die er in den Protokollen gefunden hatte, blätterte ungeduldig und hörte sie schon – Arkadijs lautlose Stimme.
    «Aus der Küche kam ein Stöhnen, als hätte sich jemand verletzt oder Svetlana würde wieder rumheulen. Sie stopfte sich dann immer das Handtuch in den Mund, und es wurde verdächtig ruhig. Kein Geschirrklappern mehr, und dann ging es los. Sie heulte. Sie stand da, wollte explodieren und schrumpfte zu einem kleinen Punkt zusammen, einem Kern von ungeheurer Energie. Ich kannte das und bin ihr ausgewichen.
    Diesmal war etwas anders. Ich schlich durch den Flur an die Küchentür. Da stand Svetlana und mein Vater hinter ihr. Ich sah die blassen Kniekehlen, sie hatte den Rock hochgeschoben. Bevor ich mehr erkennen konnte, war Olha schon bei mir, hielt mir mit beiden Händen die Augen zu und zog mich in ihre Kammer. Ich fiel mit ihr auf das Bett, sie umarmte mich und hielt mich fest. So lange, bis in der Küche wieder alles ruhig war.»
    «Was haben Sie dabei empfunden?»
    «Ich spürte zum ersten Mal, wie ich hart wurde. Sie hat das nicht gemerkt. Sie hielt mich weiter fest umarmt wie ein Kind, ihr kurzes Haar kitzelte meinen Hals.»
    Konrad war aus heiterem Himmel übel gelaunt und wusste nicht, warum. Schon Svetlanas schlüpfrig-selbstzufriedene Erinnerungen hatten ihn leicht aus der Fassung gebracht, aber darüber konnte er noch lächeln. Die Dinge in einer Ehe nötigen einem Außenstehenden doch immer nur ein mildes Lächeln ab. Die Ehe ist ein geschlossener Kreislauf, was darin passiert, geht niemanden etwas an, und nur wenig Energie dringt nach außen.
    Aber ein Kindermädchen mit seinem Schützling, nachdem sie die Eltern beobachtet haben – das war irgendwie unappetitlich, auch wenn Olha gar nichts von den Regungen des Jungen bemerkt haben sollte. Er musste schon ziemlich verkrampft in ihren Armen gelegen haben, wenn man das glauben sollte. Das Kindermädchen mit dem Adoptivkind des Vaters. War er am Ende eifersüchtig? Auf sie oder auf ihn? Arkadijs Sehnsucht nach Olha war lange so zart wie die Liebe zwischen Geschwistern, aber mit dieser Episode wurde sie auf eine andere Ebene gezogen. Das war eine unklare Erotik, eine unausgesprochene Beiwohnungsvermutung – Konrad, weißt du, was das ist? Sein armer, hemdsärmeliger Vater, wie er mit juristischen Fachbegriffen um sich warf, um sich gegen die schmerzende Tatsache zu wehren, die er nicht ertrug. Da war das Schreckliche wieder, das der Onkel ihm am letzten Tag gebeichtet hatte. Das scheußliche Geständnis sickerte jetzt in Kiew in seine Ermittlungen herein wie eine giftige Substanz.
    Arkadij zu fragen, wäre sinnlos. Er würde sich entweder nicht erinnern oder aus Scham so tun. Einzig und allein Guzmans Gesprächskunst und das wunderwirkende Präparat waren in der Lage gewesen, die alten Geschichten aus ihm hervorzuholen.
    Konrad verlor allmählich jedes Zeitgefühl. Die Amseln draußen prophezeiten den Sonnenuntergang. Er nahm es kaum noch wahr. Sein Blick huschte über die tief ins gelbliche Papier gestanzten kyrillischen Buchstaben, Seite für Seite, bis er wieder auf Olhas Namen stieß. Wenn auch er jetzt schon wie besessen nach dieser Frau suchte, dann übte sie wirklich überirdische Anziehungskraft aus.

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