Der wahre Sohn
Svetlana die Nerven verlor. Dieses Geheule, dieses beleidigte Schweigen, das war schwer zu ertragen.
Die Schnur spannte sich, mein Vater ließ den Fisch zappeln, gegen die Strömung, damit er sich erschöpfte. Dann holte er die Leine ein, zog ihn aus dem Wasser, seine Flossen spreizten sich, er sah jetzt aus wie ein fliegender Fisch, mit aufgerissenem Maul. Er tat mir leid. Er hing an dieser Schnur und bewegte sich nicht mehr. Er hatte sich gefügt. Ich fand das schrecklich. Als er am Ufer lag, schob mein Vater ihm drei Finger in den Rachen, um den Haken herauszuholen. Er konnte ihn nicht finden, dieses Würgen und Suchen dauerte ewig. Der Fisch war nicht betäubt und ließ alles mit sich geschehen, reglos. Der Übergang von Leben zu Tod war schwer zu erkennen. Nur ein paar Mal durchfuhr ihn ein Zucken, aber Tiere zucken ja auch, wenn sie schon tot sind.»
«Tiere, die schon tot sind? Wo haben Sie das gesehen?»
«Das Nashorn. Im Zoo. Es stand noch auf seinen Beinen, war aber schon tot.»
Guzman macht sich eine längere Notiz, wie Dr. Medwedjewa im Protokoll vermerkte; die Notiz selbst fand sich nicht mehr bei den Papieren. Guzman musste sie mitgenommen haben.
«Wir kamen heim, als es schon dunkel wurde. Ich wollte nicht nach Hause. Für mich war das wie die Vertreibung aus dem Paradies. Ich wollte mit meinem Vater weit weggehen, für immer, nach Sibirien, in die Taiga. Nur wir beide allein. Aber wir mussten zurück in diese kleine Familie.
Und natürlich, statt sich zu freuen, schimpfte Svetlana über den Fisch. Das hatten wir beide geahnt. ‹Er stinkt›, rief sie. ‹Du weißt doch, dass ich Fisch hasse.›»
«Die beiden Frauen waren allein zu Hause? Haben sie sich denn vertragen?»
«Ich weiß nicht. Olha kam gleich aus der Küche und freute sich. Svetlana tauchte erst nach einer Weile auf. Die beiden gingen sich aus dem Weg. Olha bereitete dann den Fisch zu. Sie schnitt ihm mit einem langen, scharfen Messer den Bauch auf, das hellrote Blut lief auf das Holzbrett. Bei dem Anblick rannte Svetlana ins Schlafzimmer, warf sich aufs Bett und heulte. Olha briet den Fisch in der Pfanne. Am Ende saßen wir zu dritt am Küchentisch und aßen den gebratenen Zander – Vater, Olha und ich. Irgendwo hatte Olha Butter besorgt. Sie war eine Künstlerin darin, solche Waren aufzutreiben. Hatte eine gute Nase, eine große, und viele Bekannte in der Stadt. Es war eine unheimliche Atmosphäre. Vater ist einmal ins Schlafzimmer gegangen und hat versucht, Svetlana zu holen. Er kam mürrisch zurück. Das war ein Sonntagabend. Ich weiß das noch, weil Vater am nächsten Tag früh wegmusste, ich sah ihn am Morgen in Uniform. Er kam oft erst nach Tagen oder Wochen zurück. In der Zeit waren Olha, Svetlana und ich allein.
Manchmal gingen wir nach dem Angeln, wenn es schon dunkel wurde, auch noch auf der Insel spazieren. Weiter hinten war alles zugewuchert, Dickicht und Bäume, man erkannte die Sandwege im Zwielicht nicht richtig und konnte sich verlaufen. Wir hörten Stimmen, das Gelächter von Frauen, Schemen bewegten sich im Gebüsch. Wenn man noch weiterging, wurde es wieder stiller. Am anderen Ende war ein toter Zweig des Dnjepr. Dort machten wir Lagerfeuer.
Ich erinnere mich sehr gut daran. Ehrlich gesagt, hatte ich lange nicht geglaubt, dass Vater aus dem Krieg zurückkehren würde. ‹Wenn ich nicht zurückkomme›, hatte er gesagt, ‹bist du der Mann im Haus. Du wirst dich um Svetlana und Olha kümmern, nicht wahr?› Damals war ich neun oder zehn. Ich versprach es ihm und fühlte mich sehr erwachsen. Und als er dann zurückkam, war ich enttäuscht, denn ich fühlte mich ja schon als der Mann im Haus.»
Mit den letzten Protokollen, kurz vor Guzmans Pensionierung, fand auch Olhas lesbar gemachte Existenz ein Ende. Mit dem Tag, an dem sie den Haushalt der Solowjows verließ, verlor sich jede Spur. Das wäre nichts Besonderes, wenn sie ein gewöhnliches Kindermädchen gewesen wäre. Aber für Arkadij war sie eine Göttin, die wiedergeborene Mutter. In ihrer Person hatte seine Krankheit sich eingerichtet wie in einer leeren Muschel.
«Ja, stimmt», schüttelte Svetlana sich, als Konrad ihr davon erzählte. «Mein Mann hat immer dieses eklige Viehzeug mit nach Hause gebracht, obwohl er wusste, dass ich keinen Fisch mag. Der Geruch hat mich wahnsinnig gemacht. Er blieb den ganzen Tag mit Arkadij weg und kam dann abends mit diesen stinkenden, zappelnden Tieren nach Hause.»
«Gezappelt werden sie wohl nicht mehr
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