Der wahre Sohn
Zeiten. Die Befragung wird unterbrochen.
Bei der Stelle mit dem Schlag war Konrad selbst zusammengezuckt. Am Rand des Durchschlags eine schwer lesbare Anmerkung, vermutlich von Professor Guzman. «Auffällig übereinstimmende Schilderung in der Sitzung vom März d.J. Dort keine anderen Männer!»
Konrad blätterte zurück. Aus dem März gab es zwei weitere Berichte, keiner enthielt eine vergleichbare Beschreibung. Die Protokolle waren chronologisch geordnet, die Seiten aber nicht nummeriert. Vielleicht hatte jemand die Blätter irgendwann falsch sortiert.
Zurück im Hotel zeichnete Konrad eine neue Konstellation. Der bislang unbekannte Bruder fand seinen Platz auf einer Ebene mit Arkadij, sie mussten dieselben Eltern gehabt haben. Er musste älter gewesen sein. «Mein großer Bruder», hatte Arkadij gesagt.
Es klopfte an der Tür, und Konrad ließ rasch das Blatt verschwinden. Das Zimmermädchen stand mit einem Rollwagen da und wollte die Bar auffüllen. Konrad griff nach seinem Jackett und fuhr mit dem Fahrstuhl nach unten.
Am nächsten Morgen fand er die neueste Konstellation nicht mehr. Seine Zettel lagen sonst immer auf dem Tisch am Fenster. Er sah im Kunstlederordner mit den Gästeinformationen und Hinweisen auf Dinge, die es ohnehin nicht gab, nach, krabbelte unter den Schreibtisch, steckte den Kopf unter das Bett, zog Decke und Laken ab, wühlte im Papierkorb, ob er ihn versehentlich weggeworfen hätte. Der Zettel blieb verschwunden. Den Inhalt konnte er leicht rekonstruieren, Sorge machte ihm nur, dass jemand seine Erkenntnisse mitgenommen haben könnte. Das Zimmermädchen kam jeden Tag. Konrad hatte bisher nicht geglaubt, dass sich jemand dafür interessieren könnte. Er musste lächeln bei dem Gedanken, wie lange dieser Jemand über dem Gewirr der Pfeile, Abkürzungen und halbmathematischen Beziehungszeichen grübelte. Womöglich konnte er anhand der Unterschiede zur vorherigen Version erschließen, was mit einzelnen Bezeichnungen gemeint war.
Er blieb auf dem Zimmer und wartete, bis das Mädchen klopfte. Sie wurde rot, als er sie nach den Papieren fragte, bestritt aber, etwas gesehen zu haben. Das war schon mal gelogen, sie musste sie ja dort liegen gesehen haben. Er konnte aber weiter nichts tun, als sie bitten, ihm Bescheid zu sagen, falls die Papiere wieder auftauchen sollten. Als sie gegangen war, rekonstruierte er den letzten Stand: Während Svetlana anfangs die zentrale Figur gewesen war, begann er mittlerweile immer mit Olha. Das Kindermädchen bildete das Kraftzentrum der Familie, auch wenn es von außen gekommen und nach dem Krieg spurlos verschwunden war. Seine energetische Wirkung aber war stabil geblieben, vor allem die auf Arkadij. Olha stand also in der Mitte neben Arkadij. Die beiden wirkten – in einer Reihe unter den Adoptiveltern – wie Geschwister. Olhas Eltern trug er der Ordnung halber ebenfalls ein, aber nur klein, denn ob sie noch lebten, war mehr als fraglich. Das Gleiche galt für Arkadijs leibliche Eltern, von denen man nicht mehr wusste, als dass sie angeblich Kulaken gewesen sein sollen. Aber das bedeutete nichts, ein ideologischer Begriff, der allein der Diffamierung diente. Als Kulak galt schon, wer ein Fahrrad oder ein Bügeleisen besaß.
So weit der engere Familienkreis. Am Rande ein Mann namens Wasyl Holota, der das gestohlene Auto angemeldet haben sollte. Mit ihm verbunden sein Opfer, für dessen Ermordung er zwei Jahre im Gefängnis gesessen hatte. Ähnlich weit vom Zentrum entfernt die völlig konturenlose und allein auf Arkadijs Mutmaßungen beruhende Gestalt, die versucht haben sollte, Jurij Solowjow umzubringen.
Seit Mazepas Bemerkungen über den «verbürgerlichten Oligarchen» mit seinen Komplexen, seinem Sadismus und seiner mörderischen Vergangenheit fühlte er sich nicht mehr sicher. Möglicherweise wusste dieser Mann schon von ihm. Vielleicht war er ganz in seiner Nähe, ohne dass Konrad etwas ahnte. Irina hatte heftig auf den Namen Holota reagiert. Was, wenn sie für ihn arbeitete? Mazepa hatte erwähnt, dass Holota sein Geld auch mit Hotelprostitution machte. Und Konrad hatte diesem Mädchen, naiv, wie er war, von seinem Auftrag erzählt!
Bislang hatte er die Tür immer nur achtlos zugezogen, nun sah er sich das Schloss genauer an. Der faustgroße Messingknauf ließ sich zweimal nach rechts drehen, so butterweich, dass es wenig Vertrauen erweckte. Von innen, stellte er fest, ließ sich die Tür auch danach noch aufziehen. Er nahm den Schlüssel
Weitere Kostenlose Bücher