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Der wahre Sohn

Der wahre Sohn

Titel: Der wahre Sohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olaf Kühl
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alles Getreide für sich behielten und der Sowjetmacht nichts geben wollten?
    Als er am frühen Nachmittag zu Svetlana nach Hause kam, war er vom Herumlaufen hundemüde, als hätte er den ganzen Tag schwer gearbeitet. Das Mittagessen wartete schon. Er hatte beschlossen, Svetlana nichts von der Bauernfamilie vor der Präsidialverwaltung zu erzählen, da er ahnte, was sie erwidern würde, und keine Lust auf ihre Litaneien hatte. Nach dem Essen machte sie Tee, und sie setzten die Gespräche fort, während es draußen dunkel wurde.
    Inzwischen hielt er auch das Schweigen mit ihr aus. Das Beisammensein war so vertraut geworden, dass er es ertrug, minutenlang mit ihr am Tisch zu sitzen und im Tee zu rühren. Ein so großes Gewicht hatte sie für Konrad bekommen, dass er sich dem Druck der Aufklärung entziehen und einfach bei Svetlana sitzen konnte, während der Mercedes 500   SE fröhlich draußen herumsauste und Benzin verbrannte. Er musste sich manchmal zu dem Gedanken an das Auto zwingen. Weil er es noch nie zu sehen bekommen hatte, drohte es, aus seinem Kopf zu verschwinden. Svetlana goss das sprudelnde Wasser aus dem eisernen Teekessel auf die Blätter, sie wirbelten hoch und sanken langsam wieder auf den Boden des Glases und färbten das Wasser dunkelbraun.
    Das Getränk wurde mit jeder Minute bitterer. Er hielt es an dem bastumwickelten Handgriff des silbern schimmernden Blechgestells mit dem ausgefrästen Blumenmuster, während er auf den Hof schaute. Auf dem Spielplatz stand eine Schaukel. Das an zwei Kordeln befestigte Kunststoffbrett schwankte, nachdem ein kleiner Junge heruntergesprungen und den anderen Kindern hinterhergerannt war. Jetzt, da Svetlana die Küche verlassen hatte, wurde ihm die Stille dieses Nachmittags bewusst, in dieser Wohnung. Sie lebte hier ohne ihr Kind und war sich dessen immer bewusst. Gerade deshalb musste die Vergangenheit dieser Familie hier noch lebendig sein. Die leiser werdenden Stimmen auf dem Spielplatz ließen ihn an die Jahre denken, als Arkadij noch ein Kind gewesen war. Er glaubte diese Zeit zu spüren wie einen Raum. Zwischen damals und heute lagen Jahre, windige, weite Jahre. Er horchte in die Stille dieses Raumes hinein, wie viel Zeit seither vergangen sein musste, und spürte, wie unsinnig diese Trennung war – dass Arkadij dort in der Klinik lag, eine halbe Autostunde entfernt, auf dem durchgeschwitzten Laken, allein mit seinen Gedanken. Guzman war in Pension, die jüngeren Ärzte nahmen ihn nicht ernst, oder vielmehr er sie nicht. Er war ein abgearbeiteter Fall, der nur noch verpflegt wurde. Ein zärtlicher Körper hätte die schlimmen Gedanken ohne weiteres von ihm nehmen können, durch bloßes Handauflegen, aber so einen Körper gab es nicht. Svetlana fuhr nur ab und zu einmal hin, um ihn mit Obst abzuspeisen.
    Wie hatte sich diese Ferne zwischen den beiden auftun können? Was musste er ihr angetan haben?
    Konrad merkte, dass er an Svetlana dachte wie an seine eigene Mutter. Hätte er sich damals gefreut, wenn seine Mutter einmal in der Woche Obst vor seiner Tür abgelegt hätte? Frühmorgens, noch vor dem Zeitungsboten, damit ihr nur ja niemand zufällig über den Weg lief, und ohne zu klingeln, während er in seinem Bett in Träumen lag? Ohne ihn sehen zu wollen, ihn zu berühren? Bei diesen Gedanken wurde der Schmerz wieder lebendig, in dem er so viele Jahre auf sie gewartet hatte. Dieser Schmerz war ein Wunder der Verwandlung gewesen. Man konnte sich nie an ihn gewöhnen, weil er sich immer veränderte, immer eine andere Farbe annahm. Jetzt leuchtete er für Sekunden auf, aber nicht mehr heiß und funkensprühend wie aus dem Hochofen, sondern ein kaltes Stück Stahl in seiner Brust, bläulich-lachsrot schillernd. Damals wollte er nicht glauben, dass sie einfach fortblieb, während er sie brauchte. Das musste sie doch spüren, als Mutter, auch über Hunderte von Kilometern hinweg. Seine Mutter konnte sich nicht taub stellen, der Raum zwischen ihnen nicht zerschnitten sein wie die Bauchdecke von einer Blinddarmnarbe. Was man als kleiner Junge eben alles denkt. Er war so fest davon überzeugt, dass er sich alle möglichen Gründe ausdachte, die es seiner Mutter unmöglich machten, Kontakt zu ihm aufzunehmen. Vor allem hatte er natürlich den Vater im Verdacht: Warf er die Briefe der Mutter weg, enthielt er ihm jedes Lebenszeichen von ihr vor? Erst seit dem Gespräch mit Onkel Wolfgang wusste er, was passiert war.
    Wenn die Verbindung zu seinem Auftraggeber wirklich

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