Der wahre Sohn
unglaubliche Gedanke, dass Mazepa gestern seinen Abschiedsbesuch gemacht haben könnte. Dass er sich einfach abgesetzt, das Mandat abgegeben hatte.
Zurück im Hotel ließ er sich eine Verbindung nach Köln herstellen. Die Sekretärin meldete, Muschter sei in einer Besprechung und werde zurückrufen. Ihr rheinischer Akzent klang so vertraut, dass Konrad ein paar Worte mit ihr wechselte.
«Was haben Sie für ein Wetter?»
«Ah, furchtbar. Regen und Wind», sagte die Frau. «Hochwasser auf dem Rhein. Von wegen Frühling.»
«Können Sie Herrn Muschter etwas ausrichten? Ich weiß, dass ich von dem Fall abgezogen bin», sagte Konrad. «Aber es ist wichtig.»
«Ich notiere.»
«Unser Anwalt hier, Jurko Mazepa. Er ist verschwunden. Arbeitet er noch in unserem Auftrag?»
«Das werde ich fragen.»
«Und noch etwas. Ich habe eine heiße Spur zu dem Täter. Er heißt Wasyl Holota.»
Als er das Gespräch an der Rezeption bezahlen wollte, reichte ihm das Mädchen nach einigen Versuchen die Kreditkarte zurück. Sie sei nicht mehr gültig. Konrad zahlte bar.
Am Nachmittag kündigte er Svetlana an: «Ich muss nach Deutschland zurück. Mein Geld geht zur Neige. Außerdem komme ich nicht weiter.»
Sie blickte ihn an. «Sie könnten doch hier einziehen. Das Zimmer steht leer.»
Er schaute ungläubig. «Ins Kinderzimmer, ja?»
Sie nickte. «Für die paar Tage oder Wochen, die Sie noch zur Aufklärung brauchen. Ich werde für Sie kochen.»
«Dann müssten Sie jetzt aber mal aufschließen.»
Als sie den Schlüssel ins Schloss steckte, sah sie zu ihm hoch. Dann betrat sie als Erste den Raum.
«Sehen Sie, kein Pilz. Alles sauber.» Sie drehte sich einmal um sich selbst. «Und wie es duftet. Ich habe extra diesen Reiniger gekauft. Damit Sie sich wie zu Hause fühlen.»
«Sie haben das geplant? Und Sie waren schon ohne mich im Zimmer?», fragte er.
«Natürlich, ich musste doch aufräumen. Soll ich Sie im Dreck verkommen lassen? Geplant? Nun, ich habe die Möglichkeit erwogen, ja.»
«Es ist aber höchstens für ein paar Tage», sagte Konrad.
Er sah sich um. Der Raum war hell, das Fenster ging auf den Hof, zum Spielplatz. «Ist Arkadij eigentlich oft auf diesem Spielplatz gewesen?»
«Als er klein war, gab es den noch nicht», sagte Svetlana. «Damals standen dort Kriegsruinen. Verrußte Hauswände, leere Fensteröffnungen und dahinter der Himmel.»
Über dem großen Schreibtisch hingen Regale. Geschichtsbücher, Graf von Ségur über Napoleon und die Große Armee in Russland, historische Zeitschriften über die Schlachten des Zweiten Weltkriegs. Auf dem Tisch Werkzeuge, ein seltsames Gestell aus vernieteten Holzleisten, zwei schwere Lupen, eine Spiegelreflexkamera der Marke Zenit.
Konrad schnupperte. Nichts Abgestandenes, Muffiges. Es roch nach Reinigungsmitteln.
«Haben Sie irgendetwas an den Sachen verändert?»
«Wollen Sie nicht mal aufhören, den Detektiv zu spielen? Die Milizionäre haben damals schon alles durchwühlt und Sachen mitgenommen. Was sollte ich hier noch verändert haben?»
Sie hob das Gestell vom Schreibtisch und zeigte es ihm wie das Erotikspielzeug eines Sohnes, der nie eine richtige Frau gehabt haben soll. «Hier, sehen Sie, das ist ein Pantograph.»
Sie griff die beiden Arme des Gelenkmonstrums und führte sie zusammen. Daraufhin erweiterten sie sich zangenartig am anderen Ende. Auf den Köpfchen saßen kleine Zeichenstifte. Sie richtete die Enden des Pantographen auf sein Gesicht und ließ sie zuschnappen. «Den hat er sich selbst gebastelt.»
«Zeugt von handwerklichem Talent. Was hat er damit gemacht?»
«Am Anfang warf er doch Bilder mit dem Diaprojektor an die Wand, auf eine Karte, die dort befestigt war. Durch Drehen an der Linse oder Verschieben des Projektors konnte er den Maßstab des Dias auf der Karte verändern. Als er aus der Klinik zurückkam, war der Projektor weg. Die Miliz hatte ihn beschlagnahmt. Aber er gab nicht auf. Er kaufte sich Holzleisten, Nieten, Flügelschrauben und behalf sich mit beweglichen Winkeln. Statt Dias an die Wand zu werfen, zeichnete er die Pläne, die nicht im passenden Maßstab waren, auf Butterbrotpapier neu und legte sie übereinander.»
«Gibt es denn noch solche Karten hier?»
«Die meisten haben sie mitgenommen. Schauen Sie doch nach. Vielleicht im Schreibtisch oder unten im Schrank.»
Svetlana wusste genau, was sich noch im Zimmer befand. Konrad war sich da sicher. Sie hatte alles beseitigt, von dem sie nicht wollte, dass er es zu sehen
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