Der wahre Sohn
abgerissen war, dann war dies das Ende seiner alten Existenz. Ohne diese Verbindung würde er sich hier einfach auflösen, er war diesen Kräften hier nicht gewachsen, hatte ihnen nichts entgegenzusetzen, er würde in ihr Gewebe einwachsen wie ein Splitter, ein deutscher Rosendorn, der sich am Ende nur noch als Narbe abhebt. Außer Muschter wusste niemand, wo er war. Marlene kannte Muschter nicht, kannte die Firma nicht, sie hatte keinen Schimmer, wo er sich befand. Freunden hatte er nie etwas von seinem Auftraggeber erzählt. Höchstens Jacek würde sich vielleicht erinnern, dass er im Hotel Dnipro abgestiegen war. Es wäre gut gewesen, Jacek jetzt hier zu haben. Mit ihm wäre er vernünftig geblieben.
Polen. Der Gedanke an das Land tröstete ihn ein bisschen. Ohne Auftrag nach Kiew zu kommen, wäre so gewesen, als wäre er 1939 mutterseelenallein in Polen einmarschiert. Alle mal aufgepasst, hier kommt Konrad Krynitzki. Dazu noch dieser Name. Als hätte er ganz allein den berühmten Schlagbaum umgelegt, dessen Foto in den Schulbüchern abgebildet war. Und sich dann irgendwo in Ostpolen mit seinen Komplizen von der Roten Armee getroffen und am abendlichen Lagerfeuer mit ihnen darauf angestoßen, dass dieser Bastard von einer Nation endlich von der Landkarte getilgt war. Die menschliche Wärme der Russen war sprichwörtlich, sogar Onkel Wolfgang hatte das nie bestritten. Man hakt sich unter, fällt sich in die Arme. Konrad bekommt ein Gläschen mit klarem Wodka, der in der rauchigen Luft des Feuers glänzt. Sentimentale Toasts, denn Deutschland und Russland grenzen endlich wieder aneinander. Jeder Offizier gibt einen langen Trinkspruch aus. Der Wodka lässt den Kopf am Anfang ganz klar, und erst als Konrad sich zum Pinkeln ins Gebüsch schlägt, überflutet ihn eine Woge, der nichts standhalten kann. Als er zu den Kameraden zurückkehrt, schwankt er schon. Und dann wird gesungen am Lagerfeuer, irgendwo östlich von Warschau, im Park eines leerstehenden Gutshauses, dessen Möbel die Rotarmisten verfeuern, allen materiellen Dingen der Welt ihre Verachtung erweisend. Erst russische, dann deutsche Lieder. Horst Wessel und die Internationale. Waffenbrüderschaft. Auf dem Land, im würzigen Geruch des verbrannten Herbstlaubes.
Im ersten Morgengrauen, wenn die Kameraden am glimmenden Feuer eingenickt wären, würde Konrad mit schmerzendem Kopf erwachen. Jetzt, da ihr Blick nicht mehr glüht und die Mienen unschön erschlafft sind, wirken die schnarchenden Freunde fremd. Er würde allein weiterziehen in Richtung Osten. Auf Moskau zu. Sie fühlen sich zu sicher, diese Freunde. Das ist ihr Fehler. Krieg ist kein Kinderspiel.
«Woran denken Sie?» Svetlanas sanfte Stimme unterbrach seinen Traum.
«An unsere gemeinsame Geschichte», sagte er.
«Schön», sagte sie gerührt. «Ich habe eben gedacht, dass unsere Herzen einander schon sehr nahe sind.»
Sie nahm zwei Gläser aus dem Küchenschrank und schenkte vom restlichen Cognac ein.
«Wir kennen uns noch gar nicht lange. Aber ich glaube, ich habe mich nicht in Ihnen geirrt.»
Auf ihrem Gesicht lag ein so seliger Ausdruck, dass Konrad sich schämte.
«Was bedeutet uns heute noch der Osten?», hörte er Onkel Wolfgang mit frischer Stimme sagen. In diesem Augenblick kam es ihm ebenso unwirklich wie grauenhaft vor, dass der Onkel tatsächlich nicht mehr am Leben sein sollte. «Lebensraum brauchen wir nicht mehr. Für wen denn? Wir sterben ja langsam aus. Guck dich an, du hast ja auch keine Kinder.» Und du schon gar nicht, dachte Konrad. «Wenn ich das heute immer lese – Transformation, Marktwirtschaft, Demokratie. Zuckerwatte! Von Eroberung spricht man nicht mehr. Aber niemand kann mir weismachen, dass es nicht genau darum geht. Damals haben wir uns einfach klarer ausgedrückt. Wir wollten den Osten, wollten in diesen Raum eindringen. Diese ungeheure Weite hat uns angezogen. Die geheuchelte Hilfsbereitschaft und das Demokratiegetue von heute sind doch nur verhüllte, höfliche Versuche, den Fuß in die Tür zu bekommen. Heute ist alles in den Händen des Kapitals. Und das Kapital will Märkte, Kaufkraft für seine Produkte, die es hier nicht mehr absetzen kann.»
Und dann wieder der Satz, den Onkel Wolfgang mehr als einmal gesagt hatte: «Niemand will die Dinge heute beim Namen nennen.»
Svetlana war zur Toilette gegangen, in diesen schmalen Raum gleich neben der Wohnungstür. Darin gab es eine nur mit einer Eisenstange zu öffnende, auf den Hof gehende Fensterluke, und
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