Der wahre Sohn
entschieden, alles ungeboren. Das Böse war noch nicht in der Welt. Die flauschigen Distelsamen fliegen über die trockene, staubige Steppe, auf dem das goldgelbe Sonnenlicht der letzten Stunden des Tages liegt. Der warme Septemberwind weht sie in die Ferne, bis nach Odessa. Leicht war alles, wunderbar leicht, wie im Zirkus. Aber diese Frau gab nicht auf, wie ein zappelnder Fisch. Sie hasste die Leichtigkeit, ihr Arm ruderte, suchte Halt und tastete ins Leere. Der geblümte Rock spannte sich. Ich sah dicke schwarze Haare, wie Blutegel, plattgedrückt unter der Strumpfhose. Und dann erreichte mich die Druckwelle ihres heißen Unterleibs.»
«Ihres Unterleibes?»
«Egal, Herr Professor! Reaktor oder Unterleib! Was macht das für einen Unterschied? Alles ging auf wie Hefeteig. Alles blähte sich und flog davon! Alles! Wie hätte ich, als Vorbeischleichender, auseinanderhalten sollen, was noch fest und was flüssig war? Ihr Unterleib war stumpf und breit, aufgescheucht von seinem bequemen Sitz, und die Hitze dieses panischen Schoßes, muffig wie eine ungelüftete Beamtenstube, presste mich zu Boden. Sekundenlang fürchtete ich, mein Schädel könnte diese Druckwelle nicht aushalten. Jetzt, jetzt zerplatzt du, dachte ich, doch schon im nächsten Moment rappelte ich mich auf und rannte los. Mein Rückgrat, verkrümmt von den Jahren der Trauer und der hungrigen Sehnsucht, streckte sich, und meine Muskeln nahmen ihre allerletzte Kraft zusammen. Der ranzige Schweiß ihrer Wollsocken stieg mir in die Nase, das Putzmittel auf dem Linoleum. Nun war sie es, die auf dem Rücken lag. Sie lief aus. Ich war der Sieger. Ich rannte. Bloß weg hier. Geschafft! Gerade noch mal geschafft.»
Patient atmet heftig, lässt sich in den Stuhl fallen.
«Mit diesen Jahren der Trauer und der unerfüllten Sehnsucht, da übertreiben Sie ein bisschen, oder?», sagt Professor Guzman. «Wer könnte denn diese Frau gewesen sein?»
«Die Etagenfrau.»
«Aber kennen Sie denn eine Etagenfrau? Haben Sie mal in einem Hotel gewohnt?»
Arkadij kommt ins Grübeln. «Im Kinderheim saß so eine Frau vor unseren Schlafsälen. Ich hatte fürchterliche Angst vor ihr. Sie passte auf, dass wir nachts nicht in die falsche Richtung liefen. Das Klo lag rechts. Für alles andere gab es Schläge, und wissen Sie, wohin?»
«Darf ich etwas bemerken? Mir fällt auf, dass diese Etagenfrau auf dem Rücken lag.»
Arkadij knetet sein Kinn mit der Hand, dann sagt er: «Sie meinen, wie Olha.»
«Richtig. Und jetzt überlegen Sie mal. Wer hat Olha umgestoßen?»
«Ach so. Nein», kichert er erleichtert, «das war ich nicht. Es war ja keine Absicht, Herr Professor.»
«Oft ist es aber so, dass wir etwas scheinbar unabsichtlich tun, was in Wirklichkeit in unserer Absicht lag. Denken Sie bis zum nächsten Mal darüber nach.»
Darunter eine handschriftliche Notiz Guzmans: «Reaktor und Unterleib – von beiden droht Gefahr.» Und: «Herausfinden, wer Olena war.»
«Wer ist dieser Dr. Holota?», fragte Konrad Prokoptschuk.
«Ein Psychiater. Jüngerer Kollege, Sergej Holota. Ist vor ein paar Monaten nach Donetzk gegangen.»
«Ich habe ihn nur ein einziges Mal in den Protokollen gefunden. War er an Arkadijs Behandlung beteiligt?»
«Das weiß ich nicht, damals war ich noch nicht hier.»
Konrad zeigte ihm das Foto. «Ist er das?»
«Nein. Wie kommen Sie darauf? Wer soll das sein?»
«Der Hauptverdächtige in dem Fall, in dem ich ermittle. Er heißt auch Holota. Wasyl Holota.»
«Holotas gibt es wie Sand am Meer», erklärte Prokoptschuk. «Wie der Name schon sagt: gemeines Volk. Nackt und arm.»
Am nächsten Vormittag wollte Konrad das Foto zurückbringen und sich eine Kopie machen. Er wollte Mazepa auch an die Adresse von Professor Guzman erinnern, die er dringend benötigte. Der Wachmann vor der Tür musterte ihn misstrauisch, als er mehrmals den Klingelknopf drückte. Vergeblich. Je dümmer so ein Glatzkopf, desto mehr bildet er sich ein, dachte Konrad.
Später am Tag gelang es ihm, durch den Haupteingang in das Gebäude zu schlüpfen, als gerade jemand herauskam und der Wachmann mit dem Hausmeister abseits stand und rauchte. Im ersten Stock fand er einen Zettel an Mazepas Tür:
Wegen Urlaubs geschlossen bis 1 . August.
Das war merkwürdig. Der ersten Empörung folgte Unsicherheit. War sein Zeitgefühl inzwischen gestört, hatte er etwas verwechselt, eine Nachricht übersehen? Mazepa hatte doch kein Wort von Urlaub gesagt. Als Nächstes kam ihm der
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