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Der wahrhaftige Volkskontrolleur - Roman

Der wahrhaftige Volkskontrolleur - Roman

Titel: Der wahrhaftige Volkskontrolleur - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrej Kurkow
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wieder messerscharfe Blicke zuwarf. „Wir haben nur acht Kinder für die Schule, und die Erwachsenen möchten gar nicht lesen und schreiben lernen … Sollen wir etwa für acht Kinder eine Schule bauen?“
    „Aber es können doch noch mehr zur Welt kommen, kein Problem!“, ertönte die Stimme einer jungen Frau, woraufhin von allen Seiten Gelächter zu hören war.
    „Mehr Kinder brauchen wir auf jeden Fall“, entgegnete der bucklige Buchhalter ernst. „Aber wir müssen erst über die Erwachsenen entscheiden. Ich schlage vor, von jeder Gruppe fünf Männer für die Schule auszuwählen: von den Bauern, den Bauarbeitern und auch von den Rotarmisten …“
    „Und von den Frauen?“, ließ sich nun eine andere weibliche Stimme vernehmen.
    „Aber die können doch sowieso schon lesen und schreiben!“, antwortete der Bucklige. „Machen wir weiter! Alle, die für meinen Vorschlag sind, heben die Hand!“
    Der Großteil hob träge die Hand und der mit dem Resultat zufriedene Bucklige machte einen entsprechenden Vermerk in seinem Heft.
    „Nun zu einer landwirtschaftlichen Frage. Es wurde vorgeschlagen, den alten Friedhof umzupflügen, um dort am besten Weizen oder Ähnliches anzubauen.“
    Unter den Versammelten breitete sich nachdenkliches Schweigen aus. Die Frauen begannen zu flüstern und aus dem Geflüster war Angst herauszuhören. Die Bauern und die Bauarbeiter runzelten ebenfalls die Stirn, da sie einem solchen Gedanken nicht ganz zustimmen mochten. Die Rotarmisten hingegen zeigten überhaupt keine Regung, sie standen schweigend und mit ausdruckslosen Gesichtern da.
    Dem Buckligen gefiel dieses Schweigen nicht. Er suchte den Blick der Lehrerin Katja und sah sie flehend an. Sie begriff sofort. Sie trat nach vorn, nahm eine würdevolle Haltung ein, indem sie die linke Schulter etwas vorschob, und wandte sich an die Siedler:
    „Genossen! Bei uns findet man noch vielerlei Aberglauben und viele Vorurteile, und eines davon, das hartnäckigste, ist die Angst vor den Toten … die Verehrung der Gräber: dieser Gruben voller Erde, in denen verstorbene menschliche Organismen liegen und in Stücke zerfallen. Ich unterstütze den Genossen Buchhalter und meine auch, dass alles, also auch der Friedhof, den Lebenden, also uns, Nutzen bringen sollte.“
    „Und was für einen Nutzen kann ein Friedhof bringen?“, fragte ein pockennarbiger Rotarmist begriffsstutzig. „Was soll das für ein Nutzen sein?“
    „Genau das will ich euch erklären, Genossen!“, fuhr Katja fort. „Ihr alle wisst, dass die beste Erde für die Landwirtschaft die Schwarzerde ist. Aber woher kommt die Schwarzerde? Was ist das genau? Und ganz allgemein, was ist Erde, woher kommt sie? Früher gab es schließlich nur Steine. Also, Genossen, jede Erde, und besonders die Schwarzerde, ist das Ergebnis der jahrhundertelangen Verwesung verschiedenster toter Organismen und Pflanzen. Ich persönlich glaube überhaupt, dass alle Schwarzerdefelder irgendwann Friedhöfe waren und nur deshalb so gute Ernten möglich sind. Und alles, was dumme und ungebildete Menschen erfunden haben, all diese Kreuze und Grabmäler – das alles kann irgendwann zu einer Hungersnot führen, denn wenn wir die Erde unter solchen Friedhöfen horten, dann nehmen wir damit unseren Enkeln und Urenkeln das Brot, versteht ihr?“
    Die Siedler schwiegen. In den Augen der Frauen glänzten Tränen. Die Rotarmisten standen mit grimmig zusammengezogenen Augenbrauen da. Wahrscheinlich waren sie verärgert über die Toten, die unter ihrem Hügel begraben lagen.
    „Und ich will euch noch etwas sagen: dass ich, wenn ich an Altersschwäche oder etwas anderem sterbe, nicht so begraben werden möchte, dass die Erde über mir lange Jahre nicht verwendet werden kann. Wenn ich sterbe, will ich, und darum bitte ich euch sogar, im Feld nah an der Oberfläche begraben werden, sodass mein toter Körper sich schneller mit der fruchtbaren Schwarzerde vermischen kann und seinen Beitrag zur Fruchtbarkeit des Bodens und zur zukünftigen Saat leisten kann. Und ich hoffe, dass ihr alle es mir gleichtut!“
    Nachdem die Lehrerin zu Ende gesprochen hatte, trat sie ergriffen von ihrer eigenen Rede in die erste Reihe der Zuhörer zurück. Die Stille dauerte etwa eine Minute an und war dann plötzlich zu Ende, als einige Menschen laut und eifrig zu klatschen begannen. Da lächelte die Lehrerin kaum merklich und senkte den Kopf, damit niemand ihre feuchten Augen sehen konnte. Weshalb sie feucht waren? Weil sie soeben

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