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Der wahrhaftige Volkskontrolleur - Roman

Der wahrhaftige Volkskontrolleur - Roman

Titel: Der wahrhaftige Volkskontrolleur - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrej Kurkow
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das ganze Gesicht, sah sich neckisch nach allen Seiten um – es war dunkel und die Menschen um sie herum nicht zu sehen – und küsste ihn auf die Wange.
    Und wieder blieb der Engel stehen, aber diesmal nicht vor Schrecken, sondern aus einem anderen Gefühl heraus, das fremd war, aber süß, und das ihn seine Vergangenheit und sein ganzes Leben vergessen ließ, und dieses Gefühl trug ihn in den Himmel, aber in einen ganz anderen Himmel, wo es niemanden mehr gab. Und wieder dachte er: Ist Katja krank?, und dieser Gedanke entschlüpfte ihm vor seinen Augen, wie eine Mücke, die auf einmal größer wurde, sich in einen Vogel verwandelte und sich in der Dunkelheit der beginnenden Nacht auflöste.
    Auch Katja war stehen geblieben. Sie stand so nah bei ihm, dass dem Engel heiß wurde. Er wollte gehen, davonlaufen, er wusste, dass er von hier wegmusste, aber dieses Gefühl hielt ihn wie eine Fessel zurück und er wusste nicht, was er tun sollte.
    Die Arme der Lehrerin schlangen sich um seinen Hals, und obgleich sie warm waren, lief dem Engel ein kalter Schauer über den Rücken, aber seine Arme hörten nicht auf seinen Verstand und auch nicht auf den mahnenden Schauer und sie umschlangen Katja. Sie schmiegten sich aneinander und standen lange Zeit schweigend unter der Himmelsdecke, die die Erde verhüllte.

Kapitel 21
    Der Aprilregen prasselte tagelang auf die Stadt herab.
    Mark hatte Kopfschmerzen. Anscheinend hatte es seine Nerven ordentlich zerrüttet, als er im Hotel in Kasan ein Eiltelegramm von der Regierung erhalten hatte mit dem Befehl, zusammen mit dem Vogel sofort in seine Dienstwohnung nach Moskau zurückzukehren und dort weitere Anordnungen abzuwarten.
    Er fuhr nach Moskau. Genau eine halbe Stunde nach seiner Ankunft besuchten ihn Urluchow aus der Kulturabteilung des ZK und ein unbekannter Mann von etwa fünfundvierzig Jahren in einem dunklen Anzug. Sie brachten ein Päckchen mit Gedichtbänden mit. Urluchow erklärte ihm, dass er einen sehr verantwortungsvollen Auftritt vor sich habe, und fügte sogleich hinzu, dass Mark selbst fünf Gedichte über den Führer auswählen solle und zwar solche, für die man sich nicht zu schämen brauchte. Damit meinte er, dass Führergedichte von bäuerlichen Dichtern nicht für das Programm taugten. Dann sagte Urluchow noch, dass Mark zur Vorbereitung fünf Tage zur Verfügung habe, einen Tag für jedes Gedicht.
    Mark saß in der Küche und umfasste seinen Kopf mit den Händen.
    Warum wählten sie das Repertoire für ihn nicht selbst aus? Warum vertrauten sie es zum ersten Mal im Leben ihm an, das Programm für Kusma zusammenzustellen?!
    Eine schlimme Vorahnung verstärkte seine Kopfschmerzen. Wo würde dieser Auftritt stattfinden?! Sicherlich direkt im Kreml!
    Ein Schauer lief über Marks Rücken.
    Wieder sah er aus dem Fenster – der violette Aprilabend schwamm immer noch im Regen.
    „Wahrscheinlich ist auch der Luftdruck nicht normal“, dachte der Künstler und entschied für sich, dass das Wetter zumindest zum Teil für sein schlechtes Befinden verantwortlich zu machen war.
    Als es dunkel geworden war, machte sich Mark daran, die Bücher zu lesen.
    Im Licht der Tischlampe flimmerten Dutzende Namen bekannter und unbekannter Dichter, die in ihren Gedichten den großen Führer ehrten. Vor seinen Augen erzitterten die Zeilen und Strophen, voll des großen Namens, den einige Poeten manchmal sehr ungewöhnlich zu reimen verstanden, was in Mark gemischte Gefühle hervorrief – einerseits Stolz auf die fremde Kühnheit, andererseits Angst um seine Zukunft.
    An diesem Abend ging er gar nicht zu Bett, und um sechs Uhr morgens, nachdem er eine Unmenge von Gedichten gelesen hatte, wählte er fünf davon aus, die für den Papagei nicht schwierig waren, gleichzeitig aber von hoher Qualität und Talent zeugten.
    Die Arbeit begann.
    Vor dem Hintergrundgeräusch des nicht enden wollenden Regens las Mark dem Papagei, der dort in seinem Käfig auf dem Tisch saß, Strophe für Strophe jedes Gedicht zwanzig bis dreißig Mal vor.
    Der Papagei hörte zu und es blieb zu hoffen, dass er sich alles einprägte.
    Die Tage, die zur Vorbereitung für den Auftritt bestimmt waren, vergingen.
    Noch anderthalb Wochen waren es bis zum Beginn der Maifeiertage, dann würde man sich erholen können.
    Am sechsten Tag erfolgte ein Anruf aus der Kulturabteilung des ZK.
    Zu diesem Zeitpunkt trug Kusma bereits alle fünf Gedichte in einem Block vor, nur zwischen den Strophen machte er kurze Pausen. Nun

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