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Der wahrhaftige Volkskontrolleur - Roman

Der wahrhaftige Volkskontrolleur - Roman

Titel: Der wahrhaftige Volkskontrolleur - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrej Kurkow
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Luft roch irgendwie besonders, nach Nadelbäumen. Irgendwo zirpte eine Hausgrille, wie in der Kindheit – im weißrussischen Dorf hinter dem Ofen in der Hütte der Großmutter.
    Und dann der Bach, über den eine Holzbrücke führte. Und wieder verlief der Weg den Hügel hinauf nach oben.
    Sie gingen lange.
    „Halt!“, befahl Woltschanow. „Sind Sie bereit?“
    „Ja“, nickte Mark.
    „Also, dann …“ Der Oberleutnant beendete seinen Satz nicht und ging auch nicht weiter, sondern verließ den Weg und setzte dabei die Sohlen seiner Stiefel ganz sacht auf und hielt sogar den Atem an. Dann blieb er abermals stehen.
    „Schauen Sie!“ Er trat ein wenig zur Seite und winkte den Künstler mit dem Finger zu sich. „Schauen Sie dorthin!“
    Iwanow, der ebenfalls den Atem angehalten hatte, schaute in die angezeigte Richtung. Und da sah er zwischen den Zweigen und Ästen eine Hütte und einen alten Mann, der mit dem Rücken zu ihnen saß. Er trug braune Hosen und eine Weste und unter der Weste lugte ein blaues Hemd hervor.
    „Gehen Sie hin, treten Sie vor ihm auf und kommen Sie gleich wieder zurück!“, flüsterte der Oberleutnant mit Bestimmtheit.
    Mark nickte, wechselte den Käfig mit Kusma von der linken in die rechte Hand und machte sich auf den Weg.
    Als die dünnen Zweige unter Iwanows Füßen knackten, drehte sich der Alte um.
    Etwa sechs Meter trennten sie noch voneinander.
    Als Mark das Gesicht des Alten sah, blieb er fassungslos stehen. Seine Hand verkrampfte sich um den Käfigring.
    Der Alte lächelte verschmitzt.
    „Na, mein Lieber, treten Sie näher!“, sagte er mit einer warmen Honigstimme.
    Mark näherte sich vorsichtig. Er blieb zwei Meter vor dem Alten stehen.
    „Was ist der Grund für Ihren Besuch?“, fragte der Alte und steckte geschäftig die Daumen beider Hände in die Westentaschen.
    Aaah!, begann Mark zu erraten. Heute ist ja der zweiundzwanzigste April … Aber er ist doch am vierundzwanzigsten gestorben?!
    „Na, warum schweigen Sie denn, mein Lieber? Sind Sie bei Ihrer Frau auch so schweigsam? Bei Ihren Eltern? Ihren Freunden?“
    Mit zitternden Fingern öffnete Mark die Käfigtür, steckte seine Hand hinein, holte Kusma nicht besonders vorsichtig heraus und setzte ihn sogleich auf seine linke Schulter. Aber der Vogel kletterte über Marks Kopf auf die rechte Schulter, wobei seine Krallen fest zupackten.
    „Kusma, trag vor!“, kommandierte Mark ohne das sonstige Wohlwollen in seiner Stimme.
    Kusma spürte die Kälte seines Herrn.
    Er drehte den Schnabel, suchte das Mikrofon, aber hier gab es keines.
    „Unsere Erde ist kalt wie Eis“, ertönte Kusmas Stimme. „Ihr sind nicht viele warme Tage gegönnt …“
    Mark atmete erleichtert auf. Während der Vogel vortrug, konnte er den Alten besser betrachten. War er das wirklich?! Tatsächlich?
    Die Vögel, die in den Kronen der Kiefern direkt über ihnen mit den Flügeln schlugen, störten den Vortrag.
    „Die Partei befiehlt – und das Glück stellt sich ein,
    Die Partei sieht dich an – und die Morgenröte glüht …
    Lenin, unser Volk dankt deiner Partei.“
    Ich wäre am liebsten schnell wieder oben und dann ab nach Hause, dachte Mark, nachdem er mit der Betrachtung des Alten fertig war. Vielleicht lassen sie mich an den Maifeiertagen wirklich in Ruhe. Das wäre schön.
    „Die Kindheit, rötlich wie ein Morgen ...“
    Der Vogel trug schon das nächste Gedicht vor.
    „... für ihn so völlig ohne Sorgen.
    Augen wie ein Jakute sie hätte,
    und Iljitsch sein Name von des Vaters Seite.“
    Plötzlich bekam Mark Hunger. Ihm fiel ein, dass er an diesem Tag noch nichts gegessen hatte und dass es in seiner Dienstwohnung nichts zu essen gab. Er hielt sich dort selten auf, und er lebte allein, ohne Frau. Seine schönsten Träume von Essen waren mit der drei Häuser entfernt gelegenen Kantine der Moskauer Wasserleitungsarbeiter verbunden. Er war dort gern gesehen, denn man wusste, dass Mark Künstler war. Er bemerkte sogar jedes Mal, dass eine junge Frau an der Essensausgabe ihm viel größere Portionen zuteilte als den Wasserleitungsarbeitern. Vielleicht gefiel er ihr? Dieser Gedanke wärmte Mark auf angenehme Weise und lenkte ihn ein wenig davon ab, dass sein Bauch unfreiwillig leer geblieben war. Währenddessen trug Kusma vor und der Alte hörte ihm aufmerksam zu. Er schien verblüfft und ergriffen, jedenfalls glänzten in seinen Augen Tränen.
    „Wenn sie alle gegangen sind,
    das menschliche Feuerwerk erlischt,
    werde ich hier alleine

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