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Der wahrhaftige Volkskontrolleur - Roman

Der wahrhaftige Volkskontrolleur - Roman

Titel: Der wahrhaftige Volkskontrolleur - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrej Kurkow
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auftreiben!“, versprach der ehemalige Rotarmist.
    Also bewegten sich alle auf dieses Feuer zu, und nun hing keiner mehr geheimen Gedanken nach, stattdessen besetzte das rein menschliche Bedürfnis nach Essen die Köpfe aller. Der Engel allerdings dachte nicht ans Essen, obwohl auch er hungrig war. Er dachte über etwas ganz anderes nach. Darüber, wie leicht ein Mensch den ihm auferlegten Weg aufgab, um an einen Ort zu gelangen, wo er in Gerechtigkeit leben konnte. Und er konnte nicht anders, als sich über diesen Gedanken zu freuen.
    Bald ließen sich in der bläulichen Dunkelheit der Nacht die ersten Gartenzäune des schlafenden Dorfes unterscheiden. Vor diesen Zäunen blieben sie stehen, bis auf die zwei flüchtigen Rotarmisten, die sich auf den Weg ins Dorf hinein machten, um Proviant zu besorgen.
    „Na, Engel“, flüsterte in der Stille der erste Deserteur, der das Hemd des Sarafans trug. „Erzähl uns doch etwas über das Paradies, ja? Wer weiß, vielleicht bist du gar nicht verrückt? Die Verrückten, die plappern ohne Pause irgendetwas dahin, aber du schweigst immerzu, als ob du wirklich etwas wissen würdest!“
    Diese Worte erstaunten den Engel, aber er staunte schweigend.
    „Was soll ich euch denn erzählen?“, fragte er, nachdem er kurz nachgedacht hatte.
    „Na, zum Beispiel, was isst man dort?“, schlug der entflohene Kolchosbauer vor.
    „Man isst weißes Weizenbrot und trinkt Milch dazu“, erinnerte sich der Engel.
    „Frisch gemolkene Milch?“, wollte der Deserteur genauer wissen.
    „Sicher.“
    „Und Fleisch?“
    „Fleisch? Nein, Fleisch isst man nicht“, sagte der Engel.
    Da verloren der Deserteur und der Kolchosbauer ihr Interesse am Essen im Paradies. Sie schwiegen und begannen, auf die Rotarmisten und den im Dorf ergatterten Proviant zu warten.
    Da störte Hundegebell die Stille und sogleich fielen alle Hunde im Dorf in den laut tönenden Chor ein.
    Erschrocken kauerten sich der Engel, der Deserteur und der entflohene Kolchosbauer nieder und horchten beunruhigt auf das Bellen.
    In den Fenstern der nächstgelegenen Hütte ging ein Licht an.
    Gebannt starrte der Deserteur auf dieses Licht und bewegte sich nicht.
    Plötzlich hörte man, wie irgendwo eine Tür zugeschlagen wurde. Dann drang ein Lichtschein durch die Zweige der Bäume irgendeines Gartens, und wieder schlug eine Tür, dann knarrte ein eingerosteter Riegel, mit dem man normalerweise ein Tor absperrt. Der Deserteur und der Kolchosbauer standen auf und blickten besorgt auf das Dorf, das vor ihren Augen zu erwachen schien oder sich auch nur im Schlaf wälzte, wie ein Mensch von enormer Größe, und schnarchte und ächzte.
    „Ach, wenn das nur gut geht!“ Der Deserteur wurde nervös. „Lieber Spreu essen, als im Konvoi marschieren zu müssen …“
    „Pssst!“, zischte ihm der entflohene Kolchosbauer zu.
    Alle drei horchten auf die im Schwinden begriffene Stille, die sich gleichsam über das Dorf erhoben hatte und die Geräusche der Nacht so gut sie konnte abdämpfte. Wie ein riesenhafter Mensch murmelte das Dorf im Schlaf und atmete die Zugluft, die Fenster und Türen bewegte. Immer mehr Lichter wurden in den Hütten unter dem Gebell des Hundechors angezündet. Und da jaulte auch schon einer der Hofköter ganz jämmerlich auf, als ob ihn sein Herr mit dem Stiefel getreten hätte. Und wie schon zuvor in das Gebell, so stimmten nun einige Hunde in das Gejaule ein und die Stille hob sich noch ein Stück weiter über das Dorf empor und ließ dabei das Hundejaulen zu den Sternen durch.
    „Hier stimmt was nicht“, flüsterte der entflohene Kolchosbauer. „Das geht nicht gut …“
    Der Engel und der Deserteur antworteten nicht.
    Wieder verging etwas Zeit, und der Viertelmond schaffte es, zwischen zwei Sternen hindurchzuwandern.
    Irgendjemandes Schritte waren zu hören und die drei Wartenden erstarrten vor Schreck, da sie nicht wussten, wer da kam.
    „He!“ Ein Flüstern ertönte, das allen dreien bekannt vorkam.
    „Wer ist das?“, fragte der Deserteur den Unsichtbaren und flüsterte dabei ebenfalls.
    „Ich bin’s, Trofim … dort schaut es so aus … die wollen uns Proviant geben, aber sie sagen, dass wir sie mitnehmen sollen in dieses Gelobte Land …“
    Der entflohene Kolchosbauer kratzte sich im Nacken.
    „Und wie viele sind das, die mitkommen wollen?“, fragte er.
    „Ja, stell dir vor, das ganze Dorf, außer dem Kolchosvorsitzenden und zwei Parteimitgliedern, die schlafen und deshalb nichts davon wissen“,

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