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Der wahrhaftige Volkskontrolleur - Roman

Der wahrhaftige Volkskontrolleur - Roman

Titel: Der wahrhaftige Volkskontrolleur - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrej Kurkow
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unterschied, und nicht aus unterschiedlichen, einzeln ausgesprochenen Wörtern und Buchstaben bestand.
    Plötzlich bemerkte der Engel nicht weit von sich eine junge Frau mit hellem Haar, die mit einer für Dorfbewohner ungewöhnlichen Sache beschäftigt war – sie sah verschiedene Bücher durch und legte sie ohne irgendeine Unterlage direkt auf das Gras. Offenbar sah er sie so an, dass sie seinen Blick spürte und ihn erwiderte. Dann lächelte sie verlegen und wandte sich wieder ihren Büchern zu, die sie sogleich auf den Stapel legte und einige Male mit einer Schnur umwickelte.
    Die Luft erwärmte sich in der Sonne und man konnte fühlen, wie von der Erde her die Feuchtigkeit der Nacht verdunstete. Einige besonders mutige Waldvögel sangen erst gar nicht mehr, sondern schmetterten ihr Lied, und die Menschen, die sich nach der nächtlichen Wanderung im Wald erholten, sprachen im hellen Sonnenlicht nun viel lauter, so als würden sie recht weit voneinander entfernt stehen.

Kapitel 15
    Wann der Schneesturm aufgehört hatte, wusste Dobrynin nicht. Vielleicht, während er auf dem Boden neben dem heißen Ofen geschlafen hatte, vielleicht auch schon früher. Es hatte einfach ständig in seinen Ohren gedröhnt und geheult, und er hatte sich nicht nur daran gewöhnt, sondern war es einfach müde geworden, dem akustischen Teil des Lebens Beachtung zu schenken. Plötzlich wurde es still. Es war zwar bestimmt schon früher still geworden, aber genau in diesem Moment wurde es in Dobrynins Ohren still, und da er nicht verstand, wohin der Lärm verschwunden war, stand er auf, zündete die Petroleumlampe an und beugte sich zum dunklen Fenster. Nun löste Freude seine Besorgnis und sein Unverständnis – der Schneesturm war zu Ende und das bedeutete, dass Fjodor und der Pilot, die wahrscheinlich das Ende der Naturgewalt im Militärlager abgewartet hatten, nun bestimmt zurückkehren würden. Der Schneesturm war vorbei und das bedeutete, dass der Komsomolze Zybulnik ihn wie versprochen abholen kommen und in die Stadt bringen würde, wo sein Dienst für das Vaterland endlich beginnen konnte und wo er würde richtig arbeiten können, gewissenhaft und nach Herzenslust.
    Pawel stellte den halb mit Wasser gefüllten Teekessel auf den Ofen. Das Petroleum im Kocher war ausgegangen, und wo er welches aus dem Flugzeug hernehmen sollte, wusste Dobrynin nicht. Aber vom Tee hatte er schon genug. Er wollte einfach nur heißes Wasser, oder zumindest warmes. Und der Ofen war gerade heiß.
    Auf dem Tisch lag nach wie vor die nicht fertig gespielte „Dominoschlange“. Jetzt würden sie zu Ende spielen können. Das Wichtigste war, nicht zu vergessen, dass einer der Kameraden den Stein „fünf-zwei“ besaß. Da tauchte allerdings in Dobrynins Kopf ein nicht ganz ehrlicher Gedanke auf: Was wäre, wenn er, solange sie nicht da waren, nachsehen würde?
    Natürlich wäre das nicht gut, mischte sich das Gewissen des Volkskontrolleurs ein.
    Na und?, dachte der Kontrolleur selbst. Er hatte doch nicht vor, sie zu betrügen oder ihre Steine auszutauschen, er wollte einfach sichergehen, wer gewinnen würde, er oder derjenige, der die „fünf-zwei“ hatte. Und seine Hände streckten sich wie von selbst nach den Steinen des Piloten aus, die mit den schwarzen, geriffelten Rücken nach oben lagen. Der gesuchte Stein befand sich nicht darunter und Pawel verstand. Jetzt war klar, dass er und niemand anderer dieses Spiel gewinnen würde. Und das verlieh seiner Seele Freude und Ruhe.
    Nachdem Pawel eine Tasse mit warmem Wasser getrunken hatte, ging er zur Tür, schob den gusseisernen Riegel zurück und blickte über die Schwelle. Die lange Polarnacht schien nun nicht mehr so dunkel. Sie wirkte jetzt bläulich und von unten beleuchtet, und etwas spiegelte sich im gleichmäßig wie eine Tischdecke ausgebreiteten Schnee wider. Dobrynin sah zum Himmel auf, der dieses fahle Licht verströmte, und öffnete vor Verblüffung den Mund. Am Himmel schillerten seltsame Bänder in mehreren Farben, die in vielen Reihen hingen wie Wäsche zum Trocknen. Verwirrt von dem wunderbaren Schauspiel, konnte Pawel nur mit großer Mühe seinen Blick von dem Leuchten losreißen, um die von Schnee bedeckte Weite zu überschauen. Trotz der Nacht war die Sicht ausgezeichnet, offenbar dank dieser strahlenden Bänder. Aber die wüstenähnliche Weite schimmerte weiß und leblos, und Dobrynin sah keine Bewegung darin. Er wusste nicht einmal, in welcher Richtung sich das Militärlager befand,

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