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Der wahrhaftige Volkskontrolleur - Roman

Der wahrhaftige Volkskontrolleur - Roman

Titel: Der wahrhaftige Volkskontrolleur - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrej Kurkow
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der auf dumme und unverdiente Art im Schnee dieses grausamen Nordens umgekommen war.
    „Es ist also besser, vor ihm nicht von Zucker zu sprechen.“
    „Und von wo bist du bis hierher gekommen?“, fragte Dobrynin den Komsomolzen, obwohl er in Gedanken immer noch beim tragischen Schicksal seines Pferdes war.
    „Ich? Aus der Ukraine. Aus dem Schytomyr-Gebiet. Dort haben wir eine reiche Erde! Nicht so wie hier – wohin du spuckst – überall Schnee. Nicht einmal richtig ausspucken kann man!“
    „Ich komme aus dem Manajenkowsker Gebiet …“, sagte Dobrynin. „Dort habe ich eine Frau, zwei Kinder und einen Hund.“
    Daraufhin tranken sie schweigend Tee. Offensichtlich schwelgte jeder in seinen Erinnerungen an die Vergangenheit und vermied, allzu rasch zu den gegenwärtigen Problemen und Sorgen zurückzukehren. Immer wieder rollte Zybulnik die Unterlippe ein, so als ob er darauf beißen wollte, und Pawel verstand, dass der Komsomolze etwas bedauerte oder über etwas traurig war, aber er wollte nicht nachfragen. Schließlich bedauerte auch Dobrynin etwas, obwohl dieses Bedauern unvernünftig und unnötig war, weil er eigentlich nur bedauern konnte, dass er seine Familie für eine vom Heimatland nicht näher bestimmte Zeit verlassen hatte.
    „Also, was ist?“ Zybulnik hatte seinen Tee getrunken und stand auf. „Fahren wir?! Unterwegs zeige ich dir einen interessanten Ort.“
    Bevor sie hinausgingen, legte der Komsomolze den Zucker, die nicht leer gegessene Schachtel Kekse und die Dose mit dem Tee in den Tresor, verschloss ihn mit dem dicken, kurzen Schlüssel und schob ihn unter sein Bett.
    Dobrynin ergriff den Reisesack und sie setzten die Reise fort. Wieder heulte der Motor und pfiff der Propeller, während er die frostige Luft durchschnitt. Der Propellerschlitten sauste unterhalb der leuchtenden Bänder, die sich am Nordhimmel bewegten, über den glatten Schnee und gehorchte dabei Zybulniks sicherer Hand.
    Nach und nach wurde die von Schnee bedeckte Erde vor ihnen ein wenig uneben, der Horizont krümmte sich undeutlich, war aber trotz der Dunkelheit sichtbar. Der Komsomolze verringerte die Geschwindigkeit, und der Propellerschlitten überwand mit Leichtigkeit die ersten Hügelchen und seichten Gräben und Mulden.
    „Gleich sind wir da!“, teilte Zybulnik mit. Ungeduldig sah Dobrynin in die Nacht hinaus, die sie umgab, erblickte Hügel und Schnee, aber sonst nichts.
    Nach einiger Zeit zeigte der Komsomolze schweigend mit der Hand auf einen höheren Hügel, der sich vor ihnen erhob.
    „Was ist dort?“, fragte der Volkskontrolleur.
    „Wir sehen es gleich! Hauptsache, niemand ist dort.“
    Nachdem sie den hohen Hügel überwunden hatten und mit ausgeschaltetem Motor hinabgerollt waren, hielt der Propellerschlitten an einem in der Tat seltsamen Ort an. Vor Neugierde sprang Dobrynin als Erster in den Schnee und steuerte sogleich mit schnellem Schritt auf einen kreisrunden, erdfarbenen Platz zu, der offenbar sorgfältig vom Schnee befreit worden war. In der Mitte des Platzes ragte ein Holzpfahl aus dem Frostboden, der, so schien es Dobrynin, in einem bekannten menschlichen Kopf endete. Und vor dem Pfahl befand sich ein schwarzer Aschefleck.
    „Was ist das?“, fragte Dobrynin.
    „Das hier? Wovon ich erzählt habe. Ein heiliger Ort. Früher sah es hier ein wenig anders aus: Hier standen mehrere einfache Götterpfähle. Aber wir haben den Platz ein wenig verändert. Wir haben nur einen einzigen Pfahl mit einer Iljitsch-Büste stehen gelassen.“
    „Und warum?“, wunderte sich der Volkskontrolleur aufrichtig.
    „Wie warum?“, wunderte sich Zybulnik seinerseits aufrichtig über die Frage des Kontrolleurs. „Es gibt schließlich das Spezialprogramm ‚Die Leninisierung des Polargebietes und des fernen Ostens‘. Und nach diesem Programm müssen wir alle kultischen Plätze der Völker des Nordens in Leninwinkel und Agitationsplätze umwandeln. Ich habe bisher nur zwei solche Plätze angepasst, aber hier im Umkreis gibt es zwanzig. Uns fehlen jedoch die Büsten. Ich habe dreißig bestellt, aber geschickt wurden nur zwei.“
    Dobrynin hörte dem Komsomolzen mit großem Interesse zu. Dabei fühlte Dobrynin, wie in seinem Inneren die Achtung für diesen starken Menschen immer mehr wuchs, der die reiche Erde Schytomyrs gegen die Schneemassen des Polargebietes getauscht hatte. Und mit Verdruss dachte er an seine Schwäche von neulich, als er im Halbschlaf oder in einem anderen Bewusstseinszustand beinahe bedauert

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