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Der Wald der Könige

Der Wald der Könige

Titel: Der Wald der Könige Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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sah Stephen Pride zu, wie sein Freund ruhig zur Spitze der Kolonne ging. Nun fragte Purkiss in respektvollem Ton und mit gelassener Miene: »Darf ich Euch die wahre Geschichte dieses Baumes erzählen, Majestät?«
    »Das dürft Ihr, guter Mann«, erwiderte König Karl vergnügt. Nellie zog ein Gesicht und sah Howard an.
    Und so begann Purkiss. Zuerst berichtete er, dass der Baum auf wundersame Weise immer um die Weihnachtszeit Blätter trieb. Und als Charles ungläubig dreinblickte, bestätigten die Förster ihm, dass das stimmte. Daraufhin beugte sich der König im Sattel vor und lauschte Purkiss aufmerksam.
    Purkiss war ein guter Geschichtenerzähler. Pride hörte bewundernd zu. Ruhig und achtungsvoll wie ein Fremdenführer, der frommen Besuchern eine Kathedrale zeigt, schilderte er die Umstände von Rufus’ Tod und erwähnte alle niedergeschriebenen oder erfundenen Einzelheiten, welche die Chroniken vermerkten. Er sprach von den bösen Träumen, die den normannischen König in der Nacht zuvor geplagt hatten, und auch von seinen Worten zu Walter Tyrrell am nächsten Morgen und von der Warnung des Mönches. Er ließ nichts aus. Dann wies Purkiss mit ernstem Gesicht auf den Baum. »Als Tyrrell den tödlichen Pfeil abschoss, Sire, streifte er den Baum und traf den König. Es heißt, der Pfeil habe eine Spur hinterlassen, die man früher einmal dort oben sehen konnte.« Er zeigte auf eine Stelle hoch am Stamm. »Damals war der Baum noch jung, Majestät. Und deshalb ist die Schramme weiter hinaufgewandert.«
    Dann beschrieb er, wie Tyrrell durch den New Forest zum Avon geflohen war und an der Furt, die später nach ihm benannt worden war, den Fluss überquert hatte. Zu guter Letzt sei die Leiche des Königs auf dem Wagen eines Waldbewohners nach Winchester gebracht worden. Purkiss schloss seine Ausführungen mit einer tiefen Verbeugung.
    »Gut gemacht, Bursche!«, rief der König aus. »War das nicht ausgezeichnet?«, wollte er von seinen Höflingen wissen, die dies bejahten. »Das ist eine goldene Guinee wert«, verkündete der Monarch, zog eine Goldmünze aus der Tasche und reichte sie dem Mann aus Brockenhurst. »Woher wisst Ihr so viel darüber, mein Freund?«, fragte er dann.
    »Weil der Waldbewohner, der den Leichnam des Königs auf seinem Wagen wegbrachte, mein Vorfahr war. Er hieß Purkiss«, erwiderte Purkiss mit feierlichem Ernst.
    Nellie lachte auf.
    Karl II. biss sich auf die Lippe. »Wollt Ihr mich auf den Arm nehmen?«, meinte er.
    Entgeistert starrte Pride seinen Freund an. Dieser schlaue Fuchs, dachte er. Purkiss hatte es wirklich sehr geschickt angestellt und an der richtigen Stelle innegehalten, um sich vom König diese letzte, wichtige Einzelheit entlocken zu lassen. Nun stand er mit völlig ungerührter Miene da.
    Und König Karl II. von England, der – ganz gleich über welche Tugenden und Fehler er sonst noch verfügen mochte – zu den unverfrorensten Lügnern gehörte, die je auf einem Thron gesessen haben, betrachtete Purkiss mit aufrichtiger Bewunderung. »Hier ist noch eine Guinee, Purkiss«, sagte er. »Es sollte mich nicht wundern, wenn der Name Eures Urahns einst in den Geschichtsbüchern stünde.«
    Und so geschah es auch.
     
     
    Es kam nicht häufig vor, dass Alice Lisle an Entschlusslosigkeit litt. Viele Menschen wären erstaunt gewesen, wenn sie davon erfahren hätten. Doch als sie an diesem Morgen ihre Familie und Mr. Hancock, den Anwalt, kühl musterte, war sie unsicher. Und das hatte durchaus vernünftige Gründe. »Ich würde mir wünschen, dass mir jemand erklärt«, stellte sie, wie immer in sachlichem Ton, fest, »wie ich einen Mann um einen Gefallen bitten soll, dessen Vater durch die Schuld meines Gatten zu Tode gekommen ist.«
    Denn alle verlangten von ihr, dass sie den König aufsuchte, solange dieser im New Forest weilte.
    So mancher hielt Alice Lisle für eine verhärmte Frau, doch das kümmerte sie nicht. Wenn ich nicht stark bin, hatte sie sich vor langer Zeit gedacht, wer wird es dann sein? Schließlich musste sie sich wehren, wenn sie angegriffen wurde. Und sie hatte sich gründlich umgesehen und niemanden entdecken können, der sie im Notfall unterstützen würde.
    Seit sie ihren Mann verloren hatte, war alles anders geworden. Manchmal wäre sie gern wieder verheiratet gewesen und hätte einen Menschen gehabt, der sie in den Armen hielt, sie tröstete und sie liebte. Besonders schwer war es ihr in den Jahren nach John Lisles Tod gefallen, als sie in die

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