Der Wald der Könige
Wechseljahre gekommen und fünfzig geworden war. Doch da es keinen solchen Menschen gab, musste sie sich eben allein durchschlagen.
Der Himmel wusste, wie beschäftigt sie gewesen war. Und sie hatte sich wacker geschlagen. Ihr größter Triumph war die Hochzeit ihres Stiefsohns gewesen. Mit Hilfe von Freunden der Familie hatte sie ein hübsches Mädchen für ihn gefunden, das einmal ein großes Gut unweit von Southampton erben würde. Ihr verstorbener Mann wäre sehr stolz auf sie und auch erleichtert gewesen. Ihre Töchter hatten gottesfürchtige Männer geheiratet, allerdings keine wohlhabenden. Und das war, wie Alice sich offen eingestand, vermutlich ihre eigene Schuld.
Die religiösen Zusammenkünfte in Haus Albion waren bald zur ständigen Einrichtung geworden, was sich rasch unter den Puritanern herumsprach. Seit die neuen Gesetze galten, mussten sich Männer, die bis dahin als Geistliche ein gesichertes Einkommen gehabt hatten, entweder der anglikanischen Kirche beugen oder auf ihren Lebensunterhalt verzichten. Also bestand kein Mangel an frommen Geistlichen, die nur allzu gern die Gastfreundschaft eines Herrensitzes genossen und dort predigten. Nach einer Weile brachte Alice sie auch in Moyles Court unter, und aus Ringwood, Fordingbridge und anderen Dörfern im Avontal bis fast hinauf nach Sarum strömten die Gläubigen herbei, um sie zu hören. Es war unvermeidlich, dass es sich bei einigen der Prediger um gut aussehende Junggesellen handelte.
Wie erwartet hatte Margaret den besonders gut aussehenden Whitaker geheiratet. Tryphena war die Gattin eines frommen Puritaners namens Lloyd geworden. Aber Bridget hatte nach Alices Meinung den besten Fang gemacht, denn ihr Mann war ein akademisch gebildeter Geistlicher, der Leonard Hoar hieß. Er hatte in Amerika an der neuen Universität Harvard studiert, war nach England zurückgekehrt und dort ein berühmter Prediger geworden. Nun spielte das Paar mit dem Gedanken, ins puritanische Massachusetts überzusiedeln, wenn in Harvard ein guter Posten frei wurde. Manchmal fragte sich Alice, ob Hoar nicht die nötige Gelassenheit fehlte, aber seine Intelligenz stand außer Zweifel.
Nun hatte Alice all ihre Töchter bis auf die kleine Betty unter die Haube gebracht. Und da Betty erst neun Jahre alt war, bestand noch kein Grund zur Eile.
Außerdem musste sie sich über andere Dinge den Kopf zerbrechen. Das Geld war immer knapp. Keiner ihrer Schwiegersöhne war vermögend, und dank der neuen Regierung würde ihnen beruflicher Erfolg vermutlich versagt bleiben. »Und weil ich eine Frau bin, glauben die Männer, sie könnten mich übers Ohr hauen«, erklärte sie ihrer Familie.
Da war zum Beispiel der Kaufmann in Christchurch, der John Lisle Geld geschuldet hatte, dies aber nun abstritt. Und dann Lisles Verwandte auf der Insel Wight, die ein Teil des Erbes von Alices Stiefsohn zurückhielten und immer noch versuchten, sich vor den Zahlungen zu drücken. Als der Kaufmann aus Christchurch Alice als penetrantes, lästiges Frauenzimmer bezeichnet hatte, hatte sie kühl entgegnet: »Wenn ich das nicht wäre, würdet Ihr mir dann mein Geld geben? Würdet Ihr meine Kinder ernähren und kleiden? Ganz sicher nicht. Zuerst bestehlt Ihr meine Familie«, höhnte sie, »und dann beschimpft Ihr mich, wenn ich mich wehre.« Sie hatte gelernt, hart zu sein.
»Wenn sie mich schon nicht lieben«, meinte sie zu Hancock, dem Anwalt, »sollen sie mich wenigstens achten.«
Nun betrachtete sie die drei Menschen, die ihr gegenübersaßen. Robert Whitaker, ein gut aussehender, ehrlicher, netter Mann, der allerdings nichts von Geschäften verstand. Tryphena, deren Gatte zwar nicht auf den Kopf gefallen war, aber meistens in London weilte. Die stets ein wenig säuerlich dreinblickende Tryphena war eine anständige Frau und eine treue Tochter. Allerdings war sie, selbst mit über Dreißig, noch so unverblümt wie ein Kind. Takt und Diplomatie bedeuteten ihr nichts. John Hancock, der Anwalt, verfügte dagegen über ein gutes Urteilsvermögen. Er war ein würdiger Herr mit grauen Locken und hätte mühelos eine Kanzlei in London eröffnen können. Doch er zog es vor, in der Nähe von Sarum zu leben. Wie alle guten Advokaten wusste er, dass das Gesetz Spielräume zulässt und dass ein Umweg häufig ebenso zum Ziel führen kann.
»Ihr findet wirklich, ich sollte den König aufsuchen?«, fragte Alice.
»Ja«, antwortete John Hancock. »Und zwar aus dem einfachen Grund, dass Ihr nichts zu verlieren
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