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Der Wald der Könige

Der Wald der Könige

Titel: Der Wald der Könige Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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Vielleicht war sie ja in ihrer Jugend von der Liebe enttäuscht worden. Doch mit fünfunddreißig Jahren gelangte sie offenbar zu dem Schluss, dass es Zeit zum Heiraten sei – auch auf die Gefahr hin, dass sie gebraucht würde. Ihr Halbbruder, das Oberhaupt der Familie, war froh über die verwandtschaftliche Verbindung zu den Albions. Und auf der anderen Seite freute sich auch Adelaide über die Hochzeit ihres Bruders. Sie bewohnte einen eigenen Flügel des Hauses, und die beiden Frauen kamen gut miteinander aus.
    Die Ehe war mehr oder weniger glücklich geworden. Francis Albions Lebensgeister schienen nach der Hochzeit neu zu erwachen, und er wirkte plötzlich um Jahre jünger. Dennoch erschrak er ziemlich, als er im Alter von achtundsechzig Jahren von seiner Frau erfuhr, dass sie ein Kind erwartete.
    »So etwas kann passieren, Francis«, sagte sie ihm lächelnd. Sie nannten das kleine Mädchen Frances nach ihrem Vater, doch wie es damals modern war, wurde sie Fanny gerufen.
    Da sich kein weiterer Nachwuchs einstellte, war Fanny die Alleinerbin. Der alte Mr. Albion genoss seine Vaterschaft, für die man ihm wegen seines vorgerückten Alters Bewunderung zollte. Und auch Fannys Mutter war glücklich. Sie hatte ein Kind, das sie lieben konnte. Und die Mutter der zukünftigen Besitzerin von Haus Albion zu sein, gefiel ihr viel besser als die Rolle der Ehefrau und Pflegerin eines alten Herrn. Adelaide war ebenfalls zufrieden, denn sie hatte nun eine kleine Nichte zum Verwöhnen. Und Mr. Totton aus Lymington war stolz darauf, dass seine Kinder nun eine gleichaltrige Cousine ersten Grades besaßen, die Erbin eines großen Gutes war.
    Als Fanny zehn Jahre alt war, starb ihre Mutter. Die Familie trauerte über diesen Verlust und machte sich Sorgen um die Zukunft des Kindes.
    »Was sollen wir jetzt tun?«, hatte Francis Albion fassungslos seine Schwester gefragt.
    »Uralt werden«, lautete die nüchterne Antwort.
    Und das war denn beiden auch gelungen. Fanny war nicht zur Waise geworden. Auch wenn Francis und Adelaide dem Alter nach ihre Großeltern hätten sein können, hatte sie eine glücklich Kindheit. Ihr Vater wurde im Alter ein wenig ängstlich und neigte zum Jammern, aber Edward und Louisa Totton glichen diese Mängel aus, sodass Fanny vor Lebenskraft nur so strotzte. Tante Adelaide mochte zwar immer öfter dieselben Geschichten wiederholen, doch ihren scharfen Verstand wusste Fanny zu schätzen.
    Und dann war da noch Mrs. Pride.
    Die Haushälterin war eine stattliche Erscheinung, hoch gewachsen und mit elegant zurückgekämmtem grauem Haar. Man sah ihr auf den ersten Blick an, dass sie eine ausgezeichnete Figur hatte. Wahrscheinlich hatte sie nie geheiratet, weil sie es vorzog, einen Herrensitz zu leiten, anstatt sich als Ehefrau eines Kleinbauern oder Kaufmanns in Lymington abzuplagen.
    Mrs. Pride ließ es nie an Respekt mangeln. Wenn die Bettlaken ausgetauscht werden mussten, bat sie Adelaide um Erlaubnis. Wenn der Frühjahrsputz nahte, fragte sie, welcher Tag ihrer Arbeitgeberin denn passen würde. Wenn ein Kamin zu zerbröckeln drohte, erkundigte sie sich höflich bei Francis, ob sie die Reparatur veranlassen solle. Sie kannte jede Nische, jeden Winkel und jeden Balken im Haus und behielt stets den Überblick über die Ausgaben. In Wahrheit war Mrs. Pride die Herrin von Haus Albion. Die Albions wohnten lediglich dort.
    Für Fanny wurde sie zur Ersatzmutter, ohne dass das kleine Mädchen es zunächst bemerkte. Mrs. Pride nahm Fanny auf Spaziergänge mit, und wenn sie eine Rast einlegte, konnte das Kind an der Furt im Wasser spielen. Als sie in Lymington zufällig Zeichenmaterial entdeckte, nahm sie sich die Freiheit, die Sachen zu kaufen, damit Adelaide sie Fanny schenken konnte. Nach der Kirche erwähnte sie gegenüber dem Vikar Fannys künstlerische Begabung und merkte bescheiden an, man müsse für das Kind wohl bald Hauslehrer kommen lassen, um seine Schulbildung zu vervollständigen. Mr. Gilpin verstand den Wink sofort und nahm die Dinge in die Hand. Mrs. Pride wirkte so geschickt im Verborgenen, dass Fanny sie bis zu ihrem fünfzehnten Lebensjahr nur als freundliche, liebevolle Frau wahrnahm, die sich um Kleidung und Essen kümmerte und die sich, wenn sie abends bei einer Kanne Tee und köstlichem Brandykuchen im Wohnzimmer saß, stets über ein bisschen Gesellschaft freute.
    Jetzt warf Fanny ihrem Vater einen ärgerlichen Blick zu, doch der hatte nach seiner letzten Bemerkung die Augen geschlossen.

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