Der Wald der Könige
Angesichts des Lebens, das er geführt hatte, wunderte sie sich über seine Ängstlichkeit. Manchmal erzählte er von seinen Reisen, schilderte den prächtigen Hof von Ludwig XV, den geschäftigen Hafen von Boston oder die Plantagen in Carolina. Zu jeder gewonnenen Seeschlacht der Briten, zu jeder bewaffneten Auseinandersetzung in Indien hatte er eine Anekdote auf Lager. Und nun machte er sich schon Sorgen, wenn sie einmal ihren Cousin in Oxford besuchen wollte.
»Vielleicht«, brach Tante Adelaide das Schweigen, »lernst du in Oxford ja einen hübschen jungen Mann kennen.«
»Vielleicht.« Fanny lachte. »Mr. Gilpin hat mir heute geraten, mich in einen armen Gelehrten zu verlieben.«
»Ich glaube nicht, dass sich das für eine Miss Albion schicken würde, Fanny.«
»Nein, Tante Adelaide, du hast vollkommen Recht.«
Fanny schmunzelte. Sie fand das aristokratische Gesicht ihrer alten Tante wunderschön und hoffte, eines Tages auszusehen wie sie. Ihrer Ansicht nach hatte Tante Adelaide kein sehr glückliches Leben geführt, aber sie klagte nie. Auch wenn Mrs. Pride sich um die praktischen Belange kümmerte, so war Tante Adelaide doch der Schutzengel dieses Hauses.
Wenn ihr Vater an Abenden wie heute eindöste oder sich in sein Zimmer zurückzog, saßen Fanny und Adelaide ruhig beisammen. Dann begann Adelaide meist zu erzählen. Und das tat sie auch jetzt.
Fanny lächelte. Obwohl die Geschichten stets die gleichen waren, hörte sie diese immer wieder gern. Wahrscheinlich lag es daran, dass die Berichte ihres Vaters – so spannend sie auch sein mochten – nur sein eigenes Leben behandelten, während Tante Adelaide von ihrer Mutter Betty, ihrer Großmutter Alice und der jahrhundertealten Geschichte des Gutes Albion erzählte. Und dies so lebendig, als habe es sich erst gestern ereignet.
»Meine Mutter wurde zur Zeit der Herrschaft von König Karl II. geboren«, erklärte Tante Adelaide, »also vor mehr als hundertdreißig Jahren. Und dennoch ist es, als wäre Betty Lisle immer noch lebendig. Ich habe vierzig Jahre lang mit ihr in diesem Haus gelebt. Den Sessel, auf dem du jetzt sitzt, hatte sie am liebsten.« Und dann erinnerte sie sich an die Rosen, die Betty im Garten gepflanzt hatte, oder an die Ziegelverkleidung, die ihr Urgroßvater angebracht hatte, oder sie erinnerte sich an die Geschichten, die man von ihrer Großmutter erzählte, jener in Rot und Schwarz gehüllten Lady Albion, die in einer Nacht wie dieser beschloss, das ganze Land zur Unterstützung der spanischen Armada aufzurufen. Nur eine Geschichte rührte Tante Adelaide stets zu Tränen, und zwar das tragische Ende ihrer Großmutter Alice Lisle.
Obwohl Tante Adelaide zwanzig Jahre nach diesen schrecklichen Ereignissen geboren war, kannte sie die Geschichte aus den Erzählungen ihrer Eltern oder der alten Tanta Tryphena. Durch ihre Augen und dank ihrer Erzählungen hatte sie die Verhaftung, den schändlichen Prozess und die Hinrichtung gesehen. Sie erschauderte immer noch, wenn sie an Moyles Court, das inzwischen nicht mehr der Familie gehörte, oder an der großen Halle in Winchester vorbeikam.
Vielleicht wäre die Erinnerung an Alice im Laufe der Jahre verblasst, wäre da nicht ihre Tochter Betty gewesen.
Im ersten Jahr nach der Hinrichtung ihrer Mutter hatte Betty sich nach Haus Albion zurückgezogen und dort wie eine Einsiedlerin gelebt. Auf Peters Briefe hatte sie nur ausweichend geantwortet, und als er sie aufsuchte, schickte sie ihn fort. Sie ertrug seine Anwesenheit einfach nicht mehr. Doch Peter blieb beharrlich, warb drei Jahre um sie, und als Betty sich ein wenig von ihrer Niedergeschlagenheit erholt hatte, heiratete sie ihn.
War ihre Ehe glücklich gewesen? Inzwischen zweifelte selbst Adelaide zuweilen daran. Einige ihrer Geschwister hatten nur das Kindesalter erreicht. Ihr ältester Bruder hatte geheiratet, war aber ohne Erben gestorben. Nur noch sie selbst und Francis waren übrig geblieben. Peter hatte sich häufig in London aufgehalten und Betty in Haus Albion allein gelassen. Als Adelaide zehn Jahre alt gewesen war, hatte sie gespürt, dass ihre Mutter häufig an Einsamkeit litt. Ein paar Jahre später war Peter mit noch nicht einmal sechzig Jahren in London verschieden, an Überarbeitung, wie es hieß. Erst kurz zuvor hatte er beschlossen, in Zukunft mehr Zeit auf dem Land zu verbringen.
Francis lebte damals in Oxfordshire im Hause eines Vikars, besuchte dort die Schule und studierte später Jurisprudenz. Mit der Zeit zog
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