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Der Wald der Könige

Der Wald der Könige

Titel: Der Wald der Könige Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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»Wir alle werden Euch im Auge behalten.«
     
     
    Die weißliche Hirschkuh erstarrte. Zitternd spitzte sie die Lauscher.
    An diesem warmen, sonnigen Augustnachmittag schien die Stille wie ein gewaltiger Schleier über der Landschaft zu liegen. Das kleine Kitz neben ihr konnte inzwischen ein paar Schritte gehen. Das magere, zarte Tierchen, das sich von ihrer Muttermilch ernährte, hatte die gefährlichsten ersten Lebenstage überstanden. Doch war es auch kräftig genug, um vor den Hunden zu fliehen?
    Sie wandte den Kopf und war sicher, sie nun deutlich zu hören. Voller Angst betrachtete sie ihr Kitz. Kamen die Jäger in ihre Richtung?
     
     
    Hugh de Martell hatte genug Geduld bewiesen. Er war es nicht gewöhnt, dass man ihn warten ließ. Der Bote hatte ihm berichtet, dass Adela den Brief erhalten hatte. Vielleicht hatte sie etwas daran gehindert, das Haus zu verlassen, doch er bezweifelte es. Oder war sie bereits hier gewesen und wieder gegangen, weil er sich verspätet hatte? Aber in seiner Nachricht hatte gestanden, dass er sich am Vormittag am Treffpunkt einfinden würde, und es war noch nicht Mittagszeit. Gewiss hätte sie auf ihn gewartet. Und nun stand er untätig hier herum. Seiner Schätzung nach waren bereits zwei Stunden verstrichen.
    Nein. Sie hatte es sich anders überlegt und einen Rückzieher gemacht. Er bedauerte es, denn er hatte sie gern gehabt. Und er musste sich eingestehen, dass er sie begehrt hatte.
    Er fragte sich, was er nun tun sollte. Sollte er zu Colas Haus reiten? Lieber nicht. Zu gefährlich. Nach Hause zurückkehren? Das schmeckte ihm gar nicht, da es ihm wie das Eingeständnis einer Niederlage erschien. Außerdem war es ein wunderschöner Tag, und er konnte genauso gut das Beste daraus machen. Vom Castle Hill aus ritt er in Richtung Burley, umrundete das Dorf und führte sein Pferd gemächlich am Zügel die Hochebene hinauf, wo sich einige Kilometer weiter ein malerischer Ausblick nach Osten und auf das Meer bot. Vor einigen Jahren hatte er dort an der Küste die Tochter eines Fischers verführt. Obwohl er ihrer bald überdrüssig geworden war, erinnerte er sich immer noch gern daran.
    Als er die Hochebene erreichte, hatte sich seine Laune schon beträchtlich gebessert. Vielleicht war Adela ja doch verhindert gewesen. Er würde sich erkundigen. Möglicherweise war sie ja noch zu haben.
     
     
    Kurz nach Morgengrauen hatte Godwin Pride den neuen Zaun fertig gestellt. Er war sehr stolz darauf. Das eingefriedete Stück Land war zwar nicht viel größer als zuvor, nur etwa einen Meter. Doch er hatte – und das war der Trick an seinem Plan – den Zaun nicht nur auf einer Seite, sondern auf zweien verschoben. Und nun sah der Pferch wieder genauso aus wie früher. Solange niemand Messungen anstellte, würde kein Mensch die Veränderung bemerken.
    »Aber was hilft es?«, fragte seine Frau. »Der Platz reicht noch immer nicht für die neue Kuh.«
    »Zerbrich dir nicht den Kopf darüber«, erwiderte er. Denn hier ging es um etwas Grundsätzliches. Als er sein Werk zum etwa fünften Mal an diesem Nachmittag in Augenschein nahm und aufblickte, sah er Adela. Nur dass er sie noch nie so erlebt hatte. Sie wirkte erschöpft und völlig außer sich. Ihr Pferd konnte sich kaum noch auf den Beinen halten, dem Tier stand der Schaum vor dem Maul, und auf seinen Flanken glänzte Schweiß.
    »Hast du die Jagdgesellschaft des Königs gesehen?«, fragte sie verzweifelt. Er verneinte.
    »Ich muss sie finden.« Einen Grund nannte sie nicht. Zum Glück stand er dicht genug bei ihr, als sie zu schwanken begann und vom Pferd glitt.
    Stundenlang hatte Adela die Umgebung von Lyndhurst abgesucht, bis sie sich schließlich damit abfinden musste, dass der König wohl einen anderen Weg genommen hatte. Also war sie nach Brockenhurst zurückgekehrt, hatte dort von einem Diener erfahren, wohin die Männer geritten waren, und dann die Wälder im Süden durchkämmt. Sie ritt hierhin und dorthin, folgte Pfaden, überquerte Lichtungen und lauschte, in der Hoffnung, inmitten der unzähligen Bäume ein leises Geräusch zu vernehmen. Doch sie hörte nichts; nur hin und wieder durchbrach das Flattern von Vogelschwingen unter dem Blätterdach die Stille.
    Kopflos war sie weiter umhergeirrt, hatte den Mut verloren und war fast verzweifelt. Aber sie durfte nicht aufgeben. Als sie in den kleinen Weilern nachfragte, konnte ihr niemand eine Antwort geben. Inzwischen wusste sie, dass ihr Pferd nicht mehr lange durchhalten würde, und

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