Der Wald der Könige
etwas erklären«, begann Bruder Adam vergnügt. »Wenn du am ersten Tag nach deinem Noviziat ein Mönch geworden bist, wirst du deinen Platz als der Jüngste unter uns einnehmen, und zwar hinter dem Bruder, der als Letzter vor dir gekommen ist. Nach einer Weile wird wieder ein neuer Mönch zu uns stoßen, der dann unter dir steht. Bei sämtlichen Mahlzeiten und Gottesdiensten wirst du auf demselben Platz zwischen diesen beiden Mönchen sitzen, jeden Tag, jede Nacht, jahrein, jahraus. Und wenn nicht einer von euch in ein anderes Kloster übersiedelt oder Abt oder Prior wird, bleibt es so für den Rest eures Lebens. Überleg einmal. Vielleicht hat einer deiner Begleiter die ärgerliche Angewohnheit, sich zu kratzen oder falsch zu singen. Der andere kleckert möglicherweise beim Essen. Und da sitzen sie, links und rechts von dir. Für immer.« Er hielt inne und strahlte den Novizen an. »So ist nun mal das Klosterleben«, meinte er freundlich.
»Aber Mönche leben doch für Gott«, widersprach der Novize.
»Und sie sind gleichzeitig ganz gewöhnliche Menschen, nicht mehr und nicht weniger. Das«, fügte Bruder Adam nachsichtig hinzu, »ist der Grund, warum wir der Gnade Gottes bedürfen.«
»Ich dachte«, sagte der Novize unverblümt, »dass du mir einen erhebenderen Rat geben würdest.«
»Ich weiß.«
Der Novize schwieg. Er war erst zwanzig Jahre alt.
»Die wichtigsten Eigenschaften eines Mönches«, sprach Bruder Adam weiter, »sind Duldsamkeit und Sinn für Humor.« Er betrachtete den jungen Mann. »Aber diese Dinge sind beide Geschenke Gottes«, ergänzte er, um ihm eine Freude zu machen.
Die beiden waren so versunken in ihr Zwiegespräch, dass sie nicht bemerken konnten, wie sie beobachtet wurden. Eigentlich hatte sich der Abt an dem Gespräch beteiligen wollen, denn er genoss Bruder Adams Gesellschaft. Deshalb war er insgeheim ein wenig verärgert, als, gleich nachdem er das Gebäude verlassen hatte, der Prior auf ihn zukam. Doch die Höflichkeit gebot, den Mann anzuhören. Während der Prior leise auf ihn einredete, betrachtete er ihn bedrückt.
John von Grockleton war nun schon seit einem Jahr Prior. Und wie den meisten seinesgleichen stand ihm keine sonderlich glanzvolle Laufbahn bevor.
Dabei ist der Prior in einem Kloster kein unbedeutender Mann, ist er doch der Mönch, den der Abt zu seinem Stellvertreter ernannt hat. Aber damit ist seine Macht auch schon am Ende. Wenn sich der Abt auf Reisen befindet, steht der Prior dem Kloster vor, allerdings darf er nur den Alltag betreffende Entscheidungen fällen. Alle wichtigen Dinge, selbst die Verteilung der Pflichten an die Mönche, müssen warten, bis der Abt zurückgekehrt ist. Der Prior ist das Arbeitspferd, der Abt gibt die Befehle. Der Abt strahlt Macht und Würde aus, der Prior nicht. Der Abt löst die Probleme, der Prior meldet sie. Ein Prior wird nur selten zum Abt befördert.
Eigentlich war Bruder John die richtige Anrede für John Grockleton. Doch aus irgendeinem Grund sprach man ihn immer mit vollem Namen an. Allerdings wusste niemand, wo dieses Grockleton überhaupt lag. Selbst der Abt konnte sich nicht erinnern. Vielleicht befand es sich irgendwo im Norden, aber eigentlich spielte das gar keine Rolle. Prior John von Grockleton war kein sonderlich ansehnlicher Mann. Früher, bevor sich sein Rücken gebeugt hatte, musste er einmal recht groß gewesen sein. Sein ehemals dichtes schwarzes Haar war schütter geworden. Aber trotz seiner Gebrechlichkeit war der Prior von einer inneren Kraft beseelt. Gewiss wird er mich noch überleben, dachte der Abt.
Wenn er nur nicht solche Hände gehabt hätte! Den Abt erinnerten sie an Klauen, obwohl er sich dieses Gedankens schämte. Es waren doch nur Hände, weiter nichts. Ein wenig knochig vielleicht, ein bisschen verkrümmt. Aber nicht anders als jedes Paar Hände, das Gott geschaffen hatte. Bloß, dass sie wirklich wie Klauen aussahen.
»Ich freue mich, dass unser junger Novize Rat bei Bruder Adam sucht«, meinte der Abt zum Prior und zitierte den ersten Vers des ersten Psalms: »›Beatus vir, qui non sequitur…‹« Selig ist der Mann, der nicht im Rat der Gottlosen wandelt…
»Sed in lege Domine…«, murmelte der Prior. Vielmehr am Gesetz des Herrn seine Freude hat.
In alltäglichen Gesprächen Psalmen zu zitieren, war nicht weiter außergewöhnlich. Selbst die Laienbrüder, die nicht so häufig zum Gottesdienst gingen, taten es. Denn während der ständigen Messen, die den Tag der Mönche vom
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