Der Wald der Könige
Matin bis zur Vesper und Compline regelten, sangen die Brüder die Psalmen natürlich auf Latein.
»Ja, das Gesetz des Herrn.« Der Abt nickte. »Bruder Adam hat doch studiert, ich glaube in Oxford.« Es handelte sich nicht um einen akademischen Orden, doch vor etwa zwölf Jahren hatte man beschlossen, die klügsten der Mönche nach Oxford zu schicken. In Beaulieu war Bruder Adam ausgewählt worden.
»Oxford«, wiederholte John von Grockleton angewidert. Auch wenn der Abt noch so sehr von Oxford schwärmen mochte, er billigte diese modernen Sitten nicht. Dass er, der Prior, sämtliche Psalmen auswendig hersagen konnte, war genug der Bildung. Menschen wie Bruder Adam hielten sich für etwas Besseres. Obwohl man die Mönche weit weg von der eigentlichen Universitätsstadt einquartiert hatte, waren sie dennoch mit der weltlichen Verderbtheit dieses Ortes in Berührung gekommen. Demzufolge waren sie einem Mönch wie John von Grockleton auch nicht überlegen – ganz im Gegenteil.
»Wenn ich irgendwann nicht mehr bin«, meinte der Abt, »würde Bruder Adam einen guten Abt abgeben. Denkst du nicht?« In Erwartung einer Zustimmung sah er den Prior an.
»Das wird auch nach meiner Zeit sein«, erwiderte Grockleton säuerlich.
»Unsinn, mein guter Bruder John«, entgegnete der Abt vergnügt. »Du wirst uns alle überleben.«
Warum hänselte er den Prior so? Der Abt seufzte und nahm sich vor, Buße zu tun. Es ist die Weigerung dieses Mannes, seine eigenen Grenzen zu erkennen, die mich immer wieder in Versuchung führt, dachte er. Und nun habe ich mich der Grausamkeit schuldig gemacht.
Im nächsten Moment wurde er von einigen Schreien, die vom Haupttor herüberdrangen, aus seinen Grübeleien gerissen. Kurz darauf stürzte eine Gestalt, gefolgt von einigen aufgebrachten Mönchen, auf ihn zu.
»Vater Abt, kommt schnell!«, keuchte der Mann atemlos.
»Wohin, mein Sohn?«
»Zum Gut Sowley. Ein Mord ist geschehen.«
Niemand war ihm auf den Fersen. Luke ruhte sich an einem Ginsterbusch aus und überlegte, was er unternehmen sollte. Etwa anderthalb Kilometer entfernt auf der Heide hütete ein Schäfer seine Herde. Doch der Mann hatte ihn nicht gesehen.
Warum hatte er es getan? Gott allein wusste, dass er es nicht gewollt hatte. Wenn Bruder Matthew nicht unangemeldet erschienen wäre, dann wäre es nie geschehen. Aber das war keine Entschuldigung. Umso weniger als Bruder Matthew ihm, einem einfachen Laienbruder, während seiner Abwesenheit die Aufsicht über das Gut übertragen hatte. Beim Gedanken, wie der arme Bruder Matthew in einer Pfütze von Blut lag, zuckte Luke zusammen.
Die Zisterzienser unterschieden sich von allen übrigen Mönchen. Die meisten Orden lebten nach den Regeln des heiligen Benedikt, und diese waren eindeutig. Mönche führten ein Leben in der Gemeinschaft, in dem sich ständiges Beten und körperliche Arbeit abwechselten. Sie gelobten Armut, Keuschheit und Gehorsam, wobei die letzten beiden Punkte mehr oder weniger eingehalten wurden. Nur mit der Armut war es immer ein wenig schwierig. Ganz gleich, wie bescheiden ihre Anfänge auch sein mochten, nach einer Weile erlangten Klöster stets einen gewissen Wohlstand. Ihre Kirchen waren prächtig, das Leben wurde bequem. Immer wieder waren deshalb Reformer auf den Plan getreten. Die bedeutendste Bewegung war von dem großen französischen Orden in Cluny ausgegangen. Doch selbst dieser war von einem neuen Orden abgelöst worden, der sich von seinem Mutterhaus im burgundischen Citeaux immer weiter ausbreitete: den Zisterziensern.
Sie waren unverwechselbar und wurden auch weiße Mönche genannt, da sie schlichte Kutten aus ungefärbter Wolle trugen.
Zisterzienser flohen vor der sündigen Welt, indem sie ihre Klöster in der abgeschiedenen Wildnis errichteten. Sie ernährten sich von den Früchten ihrer oft viele Kilometer vom Kloster entfernten Landgüter und züchteten hauptsächlich Schafe. Zum Kloster von Beaulieu gehörten viele Tausend Tiere, die nicht nur überall im Großen Hof, sondern auch im New Forest grasten, denn das Kloster besaß überall Weiderechte. Damit die Mönche den Großteil ihrer Zeit dem Gebet widmen konnten, gab es noch eine ziemlich beträchtliche Gruppe von Laienbrüdern, welche die Gelübde ablegten und einige Gottesdienste besuchten. Ihre Hauptaufgabe bestand jedoch darin, die Schafe zu hüten und die Felder zu bestellen. Für gewöhnlich waren es hiesige Bauernburschen, die sich vom mönchischen Leben im Schutz der
Weitere Kostenlose Bücher