Der Wald des Vergessens
gewebt.
Er trat auf den Flur und rief der verschwindenden Gestalt hinterher: »Vielleicht auf ein Glas, Sir.«
Sechzehn
C ap Marvell saß vor dem Fernseher, ein Glas ihres Whiskyersatzes in der einen Hand und die Fernbedienung in der anderen, und zappte durch die Kanäle auf der Suche nach einem, der sie für ein paar Minuten aus ihrem innerlichen Irrgarten holte. Vergebliche Liebesmüh, selbst bei dem Sender, der sich selbstherrlich als bester der Welt anpreist.
Sie stellte den Ton ab, ließ jedoch das Bild laufen, um der Bewegung und des farbigen Flackerns willen, die eine Illusion von Leben in das Zimmer brachten.
Sie hatte gute zehn Jahre gehabt und sogar länger, um zu sich selbst zu finden, und nun saß sie hier und hatte wieder das Gefühl, sich total verrannt zu haben. Das war echter Fortschritt! Aber sie mußte praktisch denken. Konnte sie etwas retten? Nur sich selbst, vielleicht. Und so wie sie sich im Augenblick fühlte, war sie sich nicht sicher, ob es die Mühe lohnte.
Dieses verdammte Schwein! Vor fünf Tagen hatte sie ihn noch nicht gekannt, und ihr Gemüt, Geist und Gewissen hatten sich rundum unangreifbar gefühlt. Und nun saß sie hier und kam sich wie ein Stück Treibholz vor, wie vor all den Jahren, als sie die ersten Haarrisse in der zarten Eierschale entdeckt hatte, die ihr Leben als Mrs. Rupert Pitt-Evenlode gewesen war.
Sie schlürfte ihren Whisky. Sie hatte gesehen, wie er zusammenzuckte, als er ihn probiert hatte, und nun leerte sie das Glas als trotzige Bestätigung ihrer Identität, die sich so heil und von Dauer angefühlt hatte, bevor er aufgekreuzt war. Und sich wieder fühlen würde. Das war die einzig mögliche Reaktion auf die Krise. Überleben. Weitermachen. Es dem verdammten Schwein zeigen!
Sie merkte, wie sie über ihre eigene Unlogik lächeln mußte. Wie Liebende in der ganzen Welt wissen (und wie viele haben nie geliebt?): Wenn man zeigt, daß es einem egal ist, liefert man den unumstößlichen Beweis, daß es einem nicht egal ist. Aber es war ein Anfang. Nicht das Zeigen, sondern das Lächeln. Das Leben nach Dalziel war eine echte Möglichkeit.
Aber das alte Schwein, oh, das alte Schwein!
Auch Jimmy Howard trank einen Scotch. Er war aus einem Heber, und Howard wußte weder, welche Marke es war, noch wollte er es wissen. Er war ans andere Ende der Stadt gefahren, möglichst weit weg von der Straße, wo er wohnte, und er war noch nie in dem Lokal gewesen, in dem er jetzt saß. Trotzdem hatte er sich die entlegenste und dunkelste Ecke ausgesucht, um in aller Ruhe dort zu sitzen und das Risiko, erkannt oder angesprochen zu werden, möglichst klein zu halten.
Er mußte nachdenken und Entscheidungen fällen. Das Blöde an Entscheidungen war, daß sie die Neigung hatten, einschneidende Folgen zu haben. Er dachte an das erste Mal zurück, daß er sich auf Schweigegeld eingelassen hatte. In realer Zeit war es nicht allzu lange her, aber Lichtjahre in der Erinnerung. Mr. Howard. Damals war er noch Mr. Howard gewesen, der Polizist, und wurde von dem, der sich bei ihm einschmeicheln wollte, respektvoll angesprochen.
Mr. Howard, können wir nicht wie vernünftige Menschen über die Sache reden? Oder sogar wie Freunde, bei einem Drink?
Die Betonung des Wortes
Drink
war unmißverständlich gewesen. Und das war der Augenblick gewesen. Ein Schritt in die eine Richtung, und er wäre unbeirrbar bei der Herde geblieben, wohingegen ein Schritt in die andere … Aber er hatte tatsächlich gedacht, man könne einen Schritt aus der Reihe tanzen und sich dann wieder einreihen, ohne daß groß etwas passierte, und er hatte erwidert:
»Das müßte aber ein verdammt großer Drink sein.«
Und nun war er wieder am Scheideweg angekommen. Verschiedene Wege rein, verschiedene Wege raus … oh, mit Sicherheit die Möglichkeit sehr verschiedener Wege raus!
Er stand auf und ging an die Bar, da er das Gefühl hatte, noch mehr Scotch zu brauchen.
Als der Barmann das Glas vor ihn stellte, sagte eine Stimme. »Den übernehme ich, Jimmy.«
Dalziel sagte: »Pete macht dieser Tage einen recht glücklichen Eindruck. Er und seine Frau, meine ich. Allerdings glaube ich nicht, daß er sich jemals sicher fühlt. So wie der Verstand von dieser Ellie funktioniert, kann sich ein guter Polizist gar nicht sicher fühlen bei ihr. Aber geborgen, ja, ich würde sagen, er fühlt sich zur Zeit ganz hübsch geborgen. Das Kind hilft natürlich. Ein Kind läßt man nicht einfach im Stich. Ja, das Kind
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