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Der Wald - ein Nachruf

Der Wald - ein Nachruf

Titel: Der Wald - ein Nachruf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Wohlleben
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von wenigen Ausnahmen abgesehen, der hohe, kalte Norden. Als sich das Klima nach der letzten Eiszeit dann wieder erwärmte, sich die Taiga langsam in höhere Breiten verschob, blieben manche Nadelwälder erhalten. Vor den steigenden Temperaturen wichen sie in die Hochlagen der Mittelgebirge und der Alpen aus, die so zu einer Art Rettungsinsel wurden. Dort ist bis heute ein Spiegelbild der Wälder Skandinaviens oder Sibiriens zu finden. Aus diesen Relikten aber zu schließen, Nadelbäume seien überall in Mitteleuropa heimisch, finde ich genauso verwegen wie zu sagen, Seehunde seien am bayerischen Königssee zu Hause.
    Eine Ausnahme gibt es allerdings, und zwar die Weißtanne. Dieser Nadelbaum ist der natürliche Begleiter der ursprünglichen Laubwälder und war in den Mittelgebirgen sowie im Alpenraum immer wieder einzeln oder in kleinen Gruppen zu finden. Ihr Verbreitungsgebiet überschneidet sich größtenteils mit dem der Buche. Durch ihre tiefen Wurzeln ist die Weißtanne relativ sturmfest und ihre milde Nadelstreu tut dem Bodenleben gut. Aufgrund dieser positiven Eigenschaften wird sie in Fachkreisen auch als Laubbaum unter den Nadelbäumen bezeichnet. Was für Buchen und Eichen zutrifft, gilt jedoch auch für die Weißtanne: Sie wurde in den letzten Jahrzehnten massiv zurückgedrängt und verschwand aus vielen Wäldern ganz. Wenn ich im Folgenden von Nadelbäumen spreche, dann machen Sie es gedanklich wie ich: Rechnen Sie diese Art zu den Laubhölzern.
    In Sibirien und dem nördlichen Skandinavien ist die Vegetationsperiode kurz. Kaum ein oder zwei Monate dauert die Wachstumszeit, und unter solchen Bedingungen haben es Laubbäume schwer. Im Frühjahr müssen Blätter gebildet werden, um Zucker und Holz zu produzieren. Rechtzeitig vor den Winterstürmen sollte die ganze Pracht dann wieder von den Zweigen fallen, um das Spiel im folgenden Jahr aufs Neue beginnen zu können. Für wenige Wochen würde sich dieser Aufwand nicht lohnen. Zudem muss ein Baum unter solch extremen Bedingungen rasch reagieren können. Wird es warm, so muss die Fotosynthese sofort starten. Wer da rumtrödelt und erst einmal Laub bilden muss, hat schon verloren. Aus diesem Grund lassen Fichten und Kiefern ihre grüne Pracht einfach an den Zweigen. Für die kalte Jahreszeit wird ein Frostschutz eingelagert, der so schön pufft, wenn Sie die Nadeln in eine Kerze halten, und so überstehen die Bäume unbeschadet Frost und Schnee. Mit den ersten milden Sonnenstrahlen können sie ihr Wachstum beginnen und bis zum letzten warmen Tag im frühen Herbst fortsetzen. Die Wachstumsbedingungen sind dermaßen hart, dass dabei nach 100 Jahren oft nicht mehr als fünf Meter Gesamthöhe herauskommen.
    Versetzt man diese Asketen nun nach Mitteleuropa, so wissen sie gar nicht, wie ihnen geschieht. Wachsen können sie hier von April bis September, also sechs volle Monate. Zudem steht die Sonne hier viel höher, weshalb die Nadeln eine Extraportion Licht erhalten. Wie die Muskeln eines gedopten Kraftsportlers schwel len Stamm und Zweige an. Die Nadelbäume können pro Jahr einen halben Meter in die Höhe schießen, etwa zehnmal so viel wie in ihrer angestammten Heimat. Ob es ihnen dabei gut geht? Das kann ich mir nicht vorstellen. Denn Fichten und Kiefern leiden hier entsetzlichen Durst. Im hohen Norden regnet es mehr, zudem ist es viel kühler. Dadurch verdunstet weniger Wasser und der Boden bleibt länger feucht. Trockenperioden, wie sie bei uns im Sommer regelmäßig auftreten, kennen diese immergrünen Bäume nicht. Dementsprechend sind sie auf heiße, trockene Tage nicht vorbereitet. Und das rächt sich bitter. Im Gepäck der Neuankömmlinge sind verschiedene Borkenkäfer mit eingewandert. Buchdrucker und Kupferstecher sind zwei Namen, die schön klingen und doch so manchen Waldbesitzer erzittern lassen. Diese Bezeichnungen stammen von den ziselierten Fraßgängen unter der Rinde. Eigentlich sind Borkenkäfer Schwächeparasiten, die kranke oder geschwächte Bäume befallen. Jede Art, auch die heimische Buche, kennt derartige Lästlinge. Ist der Baum gesund, so wehrt er sich gegen Attacken, indem er entweder Abwehrstoffe in die Rinde einlagert oder im Fall der Nadelhölzer den Eindringling mit einer Portion Harz ertränkt. Das funktioniert aber nur, solange der Stamm in Saft und Kraft steht. Fichten und Kiefern leiden hier aber ständig unter Durst, sodass ihnen regelrecht die Spucke ausgeht. Frisst sich in den heißen Sommermonaten ein Buchdrucker in die

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