Der Wald ist schweigen
Adresse von Darshan gefunden habe.«
»Aber ich dachte, ihr wart befreundet.«
»Wer sagt das?«
»Ich weiß nicht. Ich meine, irgendjemand hier hätte das gesagt.«
»Ich hab sie gemocht, ja. Und dann ist sie nach Indien gefahren. Das ist alles.« Die Wut in seinen Augen straft seine Worte Lügen.
»Aber du weißt nicht wohin, und das Handy ist einfach verschwunden.«
»Irgendjemand hat’s ihr wohl geschickt. Oder jemand hat es geklaut. Was weiß ich.«
»Geklaut? Kommt so was öfter vor hier im Sonnenhof?«
Jetzt gelingt es ihm kaum noch, seine Wut zu verbergen. »Nein. Und wenn wir glauben, dass das eine Angelegenheit für die Polizei ist, melden wir uns.« Abrupt dreht er sich um. »Ich schlage vor, dass ich dich jetzt zu Heiner bringe. Er soll entscheiden, ob du hier wieder wohnen kannst.«
Mit langen Schritten erklimmt er die Holztreppe, ohne sich darum zu kümmern, ob sie ihm folgt. Judith lächelt. Es sieht beinahe aus, als laufe er weg, doch das wird ihm nichts nützen. Sie ist sicher, dass Heiner von Stetten sie nicht wegschicken wird, selbst wenn er die Morde eigenhändig begangen hätte, denn er weiß genauso gut wie sie, dass das einem Schuldeingeständnis gleichkäme. Sie zieht ihre Schuhe aus, bevor sie die Eingangshalle des Sonnenhofs betritt, und verneigt sich drinnen vor dem golden lächelnden Buddha. Das Spiel hat begonnen und sie hofft inständig, dass diesmal sie diejenige ist, die die Regeln diktiert.
***
Manni ist klar, dass ihm nicht viel Zeit bleibt, Juliane Wengert dazu zu bringen, endlich auszuspucken, was sie weiß. Der Polizeimeister, den sie als Wache vor der Tür des Krankenzimmers postiert haben, hat zum Glück keine Einwände gegen Mannis Besuch, sondern trabt dankbar in die Cafeteria. Aber die Stationsärztin ist knallhart. Eine Viertelstunde hat sie ihm gewährt, und das auch nur, weil er ihr weisgemacht hat, es gehe praktisch um Leben und Tod. Um ihm klar zu machen, dass er sich benehmen muss, haben sie eine Lernschwester vor die Tür des Krankenzimmers postiert. Vermutlich presst sie ihr Ohr an die Tür, in der Hoffnung, mitzubekommen, was in dem Zimmer mit den abgestoßenen, uringelb getünchten Wänden vor sich geht. Er hofft, dass Juliane Wengert nicht wieder zu schreien anfängt, weil sie ihn dann direkt wieder hinausschmeißen werden. Aber es sieht nicht danach aus, vermutlich ist sie mit Beruhigungsmitteln vollgepumpt. Miss Marmor, denkt er, heute macht sie diesem Namen wirklich alle Ehre, so blass, wie sie ist. Mühsam wendet sie den Kopf und sieht ihn an.
»Mein Anwalt ist nicht hier.«
»Ich bin gleich wieder weg. Wir brauchen keinen Anwalt.« Er weiß, dass das eine Lüge ist, doch darauf kommt es jetzt nicht an. Er zieht sich einen Stuhl ans Bett.
»Ich bin nicht hier, weil ich Sie verdächtigen will, sondern weil ich Ihre Hilfe brauche. Bitte hören Sie mir einfach einen Moment zu.«
Sie sagt nichts, was er als Zustimmung nimmt.
»Ein Mord an einem Mädchen ist geschehen«, sagt er. »Vor einigen Monaten schon, aber unweit der Stelle, an der auch Ihr Mann getötet wurde. Sie müssen sich das vorstellen. Ein junges Mädchen mit blonden Zöpfen, das nach Indien wollte. Aber irgendetwas geht schief. Sie stürzt in diesem einsamen Wald einen Steilhang hinunter, vielleicht stößt sie auch jemand, wir wissen es nicht. Auf jeden Fall schlägt sie mit dem Kopf auf – Schädelbruch. Aber sie ist nicht tot, nur schwer verletzt, vielleicht bewusstlos, vielleicht bekommt sie auch noch etwas mit.« Er senkt seine Stimme zu einem Flüstern. »Sie müssen sich ihre Angst vorstellen, ihre Schmerzen, ihren Horror, als sie merkt, dass sie nicht fliehen kann. Und dann ist da dieser Mann – wir glauben zumindest, dass nur ein Mann zu so etwas fähig ist. Vielleicht vergewaltigt er sie. Vielleicht quält er sie. Auch das wissen wir nicht. Aber was wir mit Sicherheit wissen, ist, dass er sie schließlich tötet, indem er ihren Rucksack mit Steinen füllt und sie in einem schlammigen Loch ertränkt. Und die ganze Zeit kann sie sich nicht wehren.«
Juliane Wengert starrt ihn an, als sei er ein Gespenst. Aus ihren Augenwinkeln fließen unaufhörlich Tränen.
»Es muss einen Zusammenhang zwischen diesem grausamen Mord an dem blonden Mädchen und dem Mord an Ihrem Mann geben.« Manni versucht, alle ihm mögliche Überzeugungskraft in seine Stimme zu legen. »Und wir müssen diesen Zusammenhang wirklich sehr, sehr dringend herausfinden, damit nicht noch ein Mord
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