Der Wald: Roman
fertig war. »Benny, willst du nicht auch was vortragen?«
Der Junge zuckte die Achseln. Schüchtern blickte er zu Karen.
»Komm schon«, ermunterte sie ihn.
»Gut. Ist ›Der Rabe‹ in Ordnung?«
»Super! Ich liebe Poe.«
Benny beugte sich auf seinem Stein nach vorn und stellte seine leere Tasse zwischen den Füßen auf den Boden. »Also, los geht’s.« Er begann, das Gedicht mit tiefer, unheilvoller Stimme aufzusagen. Als der Rabe sprach, krächzte Benny das »Nimmermehr« wie ein verrückter Papagei.
Rose kicherte. Heather stieß sie mit dem Ellbogen an, damit sie still war.
Benny ignorierte sie. Er sprach langsam und mit einem gequälten Ausdruck in seinem vom Feuer beleuchteten Gesicht, als hätte er sich in den einsamen, gepeinigten Mann aus dem Gedicht verwandelt. Er steigerte sich von fieberhaft zu wütend. »Lass mit meinem Schmerze mich allein! – Hinweg Dich scher!«, rief er. »Friss nicht länger mir am Leben! Pack Dich! Fort! Hinweg Dich scher!«
Als er geendet hatte, herrschte Stille. Alle wirkten ein wenig verblüfft. Bis er grinsend aufstand und sich verbeugte. Sie applaudierten. Sogar Rose. Sogar Julie.
»Fantastisch«, sagte Karen. »Das war toll!«
»Kannst du noch mehr vortragen?«, fragte Rose.
»Vielleicht«, sagte er. »Vielleicht morgen Abend.«
»Lasst uns Geschichten erzählen«, schlug Julie vor. »Kennt jemand eine richtig gruselige?«
»Wie wär’s mit ›Der Haken‹?«, fragte Nick.
Rose rümpfte die Nase. »Die ist doch schon uralt.«
»Ich kann euch was erzählen, das einer Freundin von mir passiert ist. Es geschah vor ein paar Jahren, als sie mit ihren Freundinnen campen war – nicht weit von hier«, sagte Karen.
Heathers Augen weiteten sich. Sie schien schon jetzt Angst zu haben. Flash beugte sich vor, zog einen brennenden Ast aus dem Feuer und zündete sich damit eine Zigarre an. Benny drehte sich zu Karen um.
»Wir wollen doch nicht, dass die Kinder Alpträume bekommen«, sagte Scott lächelnd.
»Dann erzähl ich sie lieber nicht.«
»Komm schon«, bat Nick.
»Ja«, sagte Julie. »Jetzt kannst du nicht mehr zurück.«
»Also … sie haben in den Bergen gezeltet, nicht weit von hier. Es war eine kalte Nacht, in der der Wind in den Bäumen heulte und stöhnte. Sandy – so hieß sie – saß mit ihren Freundinnen Audrey und Doreen dicht am Feuer. Ich hätte eigentlich dabei sein sollen, aber ich hatte mir ein paar Tage vorher den Knöchel verstaucht und musste zu Hause bleiben. Ich habe Glück gehabt, wie sich herausstellte.«
»Ist das wirklich eine wahre Geschichte?«, fragte Benny.
»Unterbrich sie nicht«, sagte Julie.
Karen beugte sich näher ans Feuer. Sie spürte die Hitze in ihrem Gesicht und die Kälte im Rücken. »Die drei drängten sich also dicht um das Feuer zusammen, um nicht zu frieren. Sie sangen und erzählten sich Geistergeschichten, keine von ihnen wollte die angenehme Wärme des Feuers verlassen. Langsam brannte es nieder. Sandy legte das letzte Stück Holz in die Flammen. Bald war auch das so gut wie verbrannt. ›Also‹, sagte Sandy, ›warum hauen wir uns nicht aufs Ohr?‹ Die anderen waren dagegen. Sie hatten sich mit den Geistergeschichten gegenseitig solche Angst eingejagt, dass das Zelt in der Dunkelheit aussah wie ein bedrohlicher Schatten.
›Was, wenn sich jemand darin versteckt?‹, fragte Doreen.
›Ach, das ist doch lächerlich‹, sagte Sandy.«
Karen warf einen Blick zu Benny. Er starrte mit geweiteten Augen über die Lichtung zu seinem Zelt.
»Jedenfalls beschlossen sie, noch eine Weile aufzubleiben. Aber das Feuer war fast erloschen, nur noch ein paar Flammen züngelten aus den verkohlten Holzresten. Wenn sie wach bleiben wollten, bis sich ihre Angst gelegt hatte, mussten sie die Holzvorräte aufstocken. Weil niemand allein in den dunklen Wald um den Zeltplatz gehen wollte, beschlossen sie, es gemeinsam zu tun.
Aber sie hatten keine Taschenlampe. Die Taschenlampe lag im Zelt. ›Ich geh da nicht rein‹, sagte Doreen.
›Ich auch nicht‹, meinte Audrey.
Sandy fürchtete sich mittlerweile auch, aber sie sagte sich, dass es albern wäre. Also meldete sie sich freiwillig, um die Lampe zu holen. Sie ließ Audrey und Doreen am Feuer zurück und überquerte die dunkle Lichtung. Vor dem Zelt ging sie in die Hocke. Ihr Herz schlug wie verrückt, aber sie hatte nicht vor, klein beizugeben. Dann kam ihr eine Idee, bei der sie grinsen musste. Fast hätte sie laut losgelacht, aber sie beherrschte sich und hob die
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