Der Wald Steht Schwarz Und Schweiget
jetzt! Schnell. Und bringt das Gewehr wieder zurück.«
Olga sah ihren Vater an, nahm das Gewehr und ging los. Thorvald war an ihrer Seite. Schweigend verschwanden sie zwischen den Bäumen. Einmal nahm er ihre Hand. Sie entzog sie ihm. Die Fragen waren durch Antworten ersetzt worden, aber sie befriedigten Olga nicht. Sie fühlte sich wie ausgehöhlt. Sie war vollkommen leer.
Es roch nach Feuer. Der Rauch hatte sich im ganzen Wald verteilt, erfüllte die Luft, strich über die Höhen, lag in den Tälern. Er würde die Gespenster ihrer Kindheit mitnehmen. Und es würde frisches, neues Grün nachwachsen. Dort, wo einst die Hütte gestanden hatte.
23
Thorvald lag auf dem nach hinten gestellten Beifahrersitz. Sein Kopf war zur Tür gefallen und er schlief seit über einer Stunde tief und fest. Vorher hatte er noch Witze über seine Haare gemacht und darüber, dass er noch nicht mal mehr einen Haustürschlüssel hatte, oder Scheckkarten. Auch der Pass war verbrannt. Das Rückflugticket war sowieso verfallen, die Kleidungsstücke allesamt dreckig. Dass sie ein Opfer der Flammen geworden waren, war nicht weiter schlimm.
Olga war nicht besser dran. Ihre Reisetasche stand vermutlich immer noch vor Julianes Haus, und ihre Brieftasche hatte sie in der Hütte vergessen. So war das Einzige, was sie dabeihatte, ein altes Kinderportemonnaie mit Bambi-Aufdruck aus Olgas Zimmer, das ihr Vater mit mehreren Hunderteuroscheinen gefüllt hatte, damit Thorvald die Fähre von Puttgarden über den Fehmarn-Belt bezahlen konnte. Den Wagen würde Roman in Kopenhagen abholen.
»Was kann ich noch für euch tun?«, hatte er hilflos gefragt, als er müde und erschöpft nach Hause gekommen war. Er wusste, dass er vorerst nichts tun konnte, was die Geschehnisse von vor dreißig Jahren für Olga und ihre Freunde begreifbarer machen würde.
Sie brauchten Abstand, das wusste er, und sie mussten schleunigst nach Hause. Er wusste auch, dass da noch etwas war, das die beiden untereinander klären mussten.
Einmal war Thorvald in seinem Sitz hochgeschnelltund hatte sich völlig orientierungslos im Auto umgeschaut. Er hatte sich die angesengten Haare aus dem Gesicht gestrichen, eine halbe Flasche Wasser getrunken und war sofort wieder eingeschlafen.
Der schwere Volvo glitt lautlos zwischen den weißen Fahrbahnmarkierungen durch die Nacht. Olga war hellwach, obwohl ihr Schlafdefizit seit ihrer Ankunft im Wald von Nacht zu Nacht dramatischer geworden war.
Im Radio, das Olga ganz leise gestellt hatte, lief die Peer-Gynt-Suite. Als Solvejg ihr Wiegenlied sang, schossen Olga Tränen in die Augen. Dieses Lied hatte ihre Mutter ihnen immer vorgesungen, als sie Kinder waren. Sie hatte sich ins Bett gesetzt, ihre kleinen Töchter auf den Schoß genommen und ihnen zuerst eine Geschichte erzählt. Und dann hatte sie gesungen. So schön.
»… ich will dich wiegen, ich will wachen …«
»Kannst du dafür noch bestraft werden, Papa? Nach dreißig Jahren?«, hatte Olga ihren Vater gefragt.
Luis hatte den Streit mit Juliane May gestanden und die Beamten hatten ihn mitgenommen.
Olga fragte sich, ob ihr Vater jetzt, nach Vincents Tod, etwas Ähnliches tun und zur Polizei gehen würde.
Olga hatte mit Ines‘ Unterstützung Licht in die Schattenwelt ihrer Familie gebracht, und Roman hatte dazu beigetragen, dass Olga begreifen konnte.
Und doch waren Thorvald und Olga mit einem schalen Unwohlsein ins Auto gestiegen. Denn da war noch etwas, ein kleines Rattenloch, in das bisher kein Licht gedrungen war. In einem der unzähligen kleinen und versteckten Höhlen, Winkel und Spalten des Waldes saß noch etwas, das nicht gut war. Aber ihre Kräfte waren verbraucht. Sie konnten es nicht mehr ans Licht zerren.
Oder waren es die Geschehnisse von vor dreißig Jahren,die Olga nur bruchstückhaft erfassen konnte und die immer neue Fragen aufwarfen, Zweifel und Fassungslosigkeit mit sich brachten?
Warum hatten drei Menschen gewaltsam sterben müssen? Wofür? Ging es wirklich nur um Macht und Geld? Ging es nur um einen Posten in einer Firma? Eine Story? Ein Bankkonto?
Vincent hatte Luis mit Geld getröstet. Die einzige für ihn denkbare menschliche Zuwendung, die er sich abringen konnte. Olga erinnerte sich an das Gespräch mit ihrem Großvater, als sie in seinem Salon bei einer Tasse Tee über die Reaktionen der Menschen nach Julianes Tod geredet hatten. Wie sollte er sich in dieser Situation Luis gegenüber verhalten, vor dessen Augen er einen kaltblütigen Mord
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