Der Wald Steht Schwarz Und Schweiget
und Beine wurden bleischwer.
»Doch. Ja. Wie schön, dass wenigstens du so ehrlich bist … ehrlich …und so offen …«
Olga nahm nur noch von weitem wahr, dass Thorvald fragte, wie die Feuerwehr überhaupt bis zur Hütte gekommen war. Seine Stimme verhallte irgendwo in den dunklen Gängen eines traumlosen Schlafes.
Als Olga die Augen aufschlug, stand der Wagen. Beißendes, grelles Licht drang ins Auto. Die Sonne schien. Und sie war allein. Sie öffnete die Tür und stieg aus. Der Volvo stand auf einem großen Parkplatz. Die Luft war warm und erfüllt von einem lauten Rauschen. Waren sie immer noch an der Autobahn? Sie ging einen ausgetretenen Pfad hinauf, um auf die kleine Straße zu gelangen, die oberhalb des Parkplatzes entlangführte. Wie angewurzelt blieb sie stehen. Sie musste sich die verschlafenen Augen reiben. Träumte sie noch? Olga stand am offenen Meer.
Nein, es war kein Traum. Als sie den Strand hinunterstolperte, sah sie Thorvald. Er war damit beschäftigt, flache Steine über die Wasseroberfläche flitzen zu lassen.
Als er sie sah, lachte er. »Es geht nicht, es sind zu viele Wellen!«
»Was soll das? Wo sind wir hier?«, rief sie, immer noch verwirrt.
Olga hatte Thorvald bisher nur im dunklen Wald gesehen. Im hellen Sonnenlicht sah er viel schlimmer aus.Sein ehemals weißes T-Shirt war grau-braun-rußig, durchsetzt mit dunklen Blutflecken, vermutlich von Luis‘ Schussverletzung. Er sah aus, als hätte man ihn gerade aus einem Unfallwagen gezogen.
»Auf dem Schild stand irgendwas mit ›Weißer Strand‹. Das hat sich so schön angehört und da bin ich einfach von der Autobahn abgefahren.«
»Weißenhäuser Strand? Aber der liegt ja mehr als hundert Kilometer hinter Hamburg. Sag mal … bist du jetzt völlig verrückt geworden? Ich will nach Hause!«
»Wieso? Ich habe dich gerade entführt. Hast du das noch nicht gemerkt? Wir haben einen Mord hinter uns, einen Mordversuch. Erpressung. Aber noch keine Entführung!«
»Du gemeiner Kerl! Du Egoist! Ines hatte ganz recht. Du denkst nur an dich!«, schrie Olga.
»Du kommst mit nach Kopenhagen!« Thorvald hatte bereits angefangen sich auszuziehen. Olga stand fassungslos vor ihm, dann drehte sie sich um und lief in Richtung des Parkplatzes davon. Thorvald wusste genau, was sie vorhatte. Er war mittlerweile splitternackt.
Mit einem Kopfsprung stürzte Thorvald sich in die Wellen. Das Wasser war eisig und er tauchte mit einem Aufschrei wieder auf. Aber es war die schönste Wiedergutmachung, die er seinem geschundenen Körper geben konnte. Das Ostseewasser sollte den Fluch der letzten Tage von ihm nehmen. Es sollte alles wegwaschen, den Frust, die Wut, den Schweiß, den Dreck, den Schorf der Wunden.
Er wollte wieder Thorvald Einarsson sein. Der Sänger. Der sich in Kopenhagen in seine Arbeit stürzen wollte. Er war unendlich erleichtert. Immer wieder tauchte er unter, wusch sich die Haare und schwamm mit kräftigen Armschlägen ins Meer hinaus.
Als er sich langsam wieder ans Ufer treiben ließ, sah er Olga, die seine Sachen nach dem Autoschlüssel durchsuchte. Hätte er ihn im Wagen stecken lassen, wäre sie ohne jeden Zweifel davongefahren. Mit dem Bambi-Portemonnaie. Dann wäre die Situation für ihn bedeutend schwieriger geworden. Als er wieder Grund unter den Füßen spürte, versuchte er auf dem Meeresboden, der mit großen, runden und vollkommen glatten Steinen übersät war, Halt zu finden.
»Finstre Furien, ihr Geister der Hölle!«
Olga funkelte ihn böse an. Thorvald verlor das Gleichgewicht und fiel nach hinten ins Wasser zurück. Er ließ sich im flachen Wasser treiben und arbeitete sich mit den Händen über die Steine ganz langsam bis nach vorne an den Strand.
»Straft mit Qualen mich, straft mit Qualen mich,
straft mit Qualen, mit grausamen Schmerzen!«
»Halt die Klappe!«
»Der Schlüssel liegt auf dem linken Vorderreifen, Schatz!«
Als Olga losstürmen wollte, krabbelte Thorvald blitzschnell auf allen vieren aus dem Wasser, stürzte hinter ihr her und erwischte sie im Flug am rechten Fuß. Sie rauften eine ganze Weile, bevor er sie schließlich überwältigte. Dann hob er sie einfach hoch, als wollte er eine unwillige Braut über die Schwelle ins Glück tragen. Schnell rannte er wieder zurück ins Wasser und warf sie in hohem Bogen hinein.
Olgas Schrei verstummte, als eine Welle über ihr zusammenschlug.Als sie wieder an die Oberfläche kam, dauerte es eine Weile, bis sie den Schock und die Kälte
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