Der Wald Steht Schwarz Und Schweiget
begangen hatte? Einen Mord, für den er nicht zur Rechenschaft gezogen wurde, weil er außerhalb der Justiz nach seinen eigenen Gesetzen lebte? Er, Vincent Ambach, der doch ein Vorbild sein wollte?
Sein Sohn Roman hatte auch das für ihn geregelt. Er hatte sich Luis‘ angenommen. Jetzt verstand Olga die innige Beziehung, die Roman und Luis verband. Es war viel mehr, als Vater und Sohn je sein konnten. Und Roman Ambach hatte beschlossen, seinen Vater für den Mord zu bestrafen, indem er ihn für tot erklärte. Roman hätte zur Polizei gehen können. Vielleicht hatte Vincent sich das erhofft. Aber sein Sohn hatte die Leiche vergraben und den Vater verlassen.
Für Vincent Ambach war Luis Sander letztlich zu einem wiederkehrenden monatlichen Posten in seiner Buchhaltung geworden. Und Luis Sander wurde dreißig Jahre später selbst verantwortlich für den Tod eines Menschen.
Immer wieder sah Olga in der dunklen Frontscheibe den Blick ihres Großvaters. Diesen Hilfe suchenden Blick,als sie ihn das letzte Mal lebend gesehen hatte. Wer war Vincent Ambach gewesen? Dieser fremde alte Mann, von dem sie ihre Liebe zur Musik, ihre Lust am Zeichnen geerbt hatte. Von dem alle sagten, er sei ein gefühlloser, kalter Tyrann.
Ihr Großvater hatte sich selbst mit dieser Fassade umgeben. Sie verlieh ihm Sicherheit, verschaffte ihm Schutz vor den Fragen des Lebens, die sich nicht mit logischer Berechnung erklären ließen. Obwohl er mit einer solchen Hingabe Bach spielte, war er ein Mörder. Er hatte den Mörder seines Sohnes getötet. Vincent Ambach gab sich das Recht dazu.
Olga musste auf die Toilette. An einer Tankstelle hielt sie an und stieg aus dem Wagen. Vorher schaute sie auf den schlafenden Thorvald und bemerkte, dass sein Gesicht noch ganz rußig war. Darunter leuchtete die Schramme, die er sich in der Nacht zuvor im Wald zugezogen hatte, als sie vor dem Hund flüchten mussten. Er trug die Jeans, aus der der Hund ein Stück herausgerissen hatte. An der Stelle war noch ein dunkler Blutfleck.
Auf einmal tat er ihr leid. Es war
ihre
Familientragödie, in die er hineingeraten war. Und er war bis zum Schluss bei ihr geblieben. Sie strich ihm eine Haarsträhne aus dem Gesicht, dann öffnete sie leise die Tür.
Als sie wieder zurückkam, stand Thorvald neben der offenen Tür, reckte sich und gähnte dabei laut.
»Brrr, ich friere wie ein Schneider«, rief er und lief an ihr vorbei in die Tankstelle, um sich einen Kaffee zu holen.
Als er mit dem dampfenden Kaffee zurückkam, reichte er Olga eine Decke, die er aus dem Kofferraum geholt hatte. »Ich übernehme jetzt«, sagte er. »Schlaf schön, und wenn du wieder aufwachst, bist du zu Hause. Wo sind wir überhaupt?«
»Irgendwo vor Bremen.«
Olga legte sich die Decke über und schaute aus dem Seitenfenster. Die Dämmerung hatte eingesetzt. Ein orangefarbener Streifen zog sich über den Horizont. Sie holte ihr Handy aus der Hosentasche. Neben der Zeichnung der toten Juliane das Einzige, was sie noch hatte. Sie wählte eine Nummer.
»Wen willst du denn jetzt wecken?«, fragte Thorvald.
Es dauerte eine Weile, bis Roman sich meldete. Olga wusste, dass er ein Telefon an seinem Bett stehen hatte.
»Papa? War Heinrich sofort tot?«
Thorvald blickte immer wieder zu ihr herüber. Olga saß ganz ruhig da und sah aus dem Fenster, während sie zuhörte.
»Wessen Idee war das eigentlich, ihn nach Paraguay auswandern zu lassen?«
Einmal sah sie kurz Thorvald an, dann schaute sie wieder aus dem Fenster.
»Ja … du auch.«
Sie schaltete ihr Handy aus und schmiss es auf die Rückbank. Dann legte sie ihren Kopf auf die Lehne und schloss die Augen.
»Reden! Ich frage mich immer wieder, warum die Menschen nicht miteinander reden können.«
Thorvald betätigte die Scheibenwaschanlage. Ein dickes Insekt war genau in Augenhöhe auf die Windschutzscheibe geknallt. Thorvald hob den Zeigefinger. »Ich sage es dir – Mist, jetzt sehe ich gar nichts mehr! – Es ist pure Bequemlichkeit. Man stellt sich stur, man gibt sich selbst die Antworten, die man von anderen einfordern müsste. Das ist viel einfacher als eine offene Konfrontation. Man könnte ja Dinge über sich selbst erfahren, die man gar nicht hören will.«
Das Wasser der Scheibenwaschanlage strömte in kleinen Wellen über die Scheibe.
»Die Welt würde so anders aussehen, wenn die Leute ehrlich und offen miteinander umgingen.«
Olga schloss die Augen. Ein übermächtiges Bedürfnis nach Schlaf überzog sie, und ihre Arme
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